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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger
Autoren: Elmar Bereuter
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brauchst du lediglich ein paar neue Gesetze! Die alten greifen nicht mehr, sind überholt, erklärst du ihnen und fügst noch hinzu, wer dagegen sei, mache sich verdächtig und habe etwas zu verbergen! Dieses Prinzip hat vor zweitausend Jahren schon funktioniert, es funktioniert heute noch und wird morgen genauso
    funktionieren. Nicht nur in Europa, überall auf der Welt!
    Versucht nicht auch in Amerika der Klan immer wieder, den Fuß in die Tür zur Macht zu setzen?«
    Lois Oliphant Gibbons kaufte sich beim Busfahrer ein Billett und suchte sich einen Fensterplatz. Als der Wagen endlich losfuhr und sie noch einen Blick nach draußen warf, wurde es bereits Abend über Rheinbach.

    41

    An einem herrlichen Frühlingsmorgen 1938 schritt ein kleiner, alter Mann über den knirschenden Kies des weiten Campus in Cornell. Auf einer Bank ließ er sich nieder, lehnte sich zurück und hielt sein Gesicht in die warmen Strahlen der Sonne.
    Einige Zeit war er nun in Philadelphia gewesen, hatte dort unterrichtet, jetzt war er heimgekehrt, dorthin, wo er mehr als sein halbes Leben verbracht hatte. Tief sog er den süßlichen Duft der Jasminsträucher ein, lauschte dem Grageln eines Rabens oben in einer Tanne und sah mit mildem Lächeln auf das Gezänk der Spatzen zu seinen Füßen. Die Brieftasche, die er aus seiner Jackentasche holte, war schon abgegriffen, ebenso das Bild einer übermütig lachenden jungen Frau mit lockigem Haar. In seinen Augen glitzerte es feucht.
    George Lincoln erhob sich und ging ohne Eile auf das Telluride-Haus zu, in dem er seit zwanzig Jahren eine winzige Unterkunft hatte. Im Treppenhaus hing der vertraute Geruch von Bohnerwachs. Vor einer Tür im zweiten Stockwerk stellte er seinen Koffer ab, sperrte auf, zog die Vorhänge an den Fenstern zurück. Noch im Umdrehen verließ ihn jeder Mut.
    Wie es hier aussah! Er hatte es zwar schlimm in Erinnerung gehabt, aber so? Stapel von Büchern, gelesen, halb gelesen, ungelesen. Begonnene Arbeiten, seit Jahren halb fertige Arbeiten, Mappen voll Vermerke, Verweise und
    Querverweise. Karteien, Listen, Prospekte, lose Blätter mit flüchtigen Notizen, Abschriften, Zeitungsausschnitte.
    Manuskripte, Kataloge, Zeitschriften, die er noch nicht einmal aufgeschlagen hatte. Abhandlungen, Broschüren, Landkarten, Jahresberichte, Einladungen. Dissertationen mit der Bitte um Durchsicht, Anfragen von Kollegen und Verlagen, dazu Briefe, Briefe, Briefe…
    Burr zog sich einen Stuhl heran und blickte stumm auf das Chaos. Einundachtzig Jahre alt war er nun. War das hier sein Lebenswerk? Er sprach sich Mut zu, stand auf und machte sich daran, das Durcheinander zu sortieren und zu ordnen. Stunde um Stunde ging dahin und George Lincoln wurde immer verzweifelter. Das hier ließ sich nicht in ein paar Tagen erledigen, sondern brauchte Monate, wenn nicht gar Jahre!
    Was war übrig geblieben von seinem langen Leben? Wo waren seine Spuren? Verweht von der Zeit, verwischt und verschwunden in den unzähligen Arbeiten anderer. Von ihm stammten lediglich Teile der Venezuela-Guyana-Bände der US-Regierung, seine »Hexenjagd« von 1896, die
    »Erzählungen der Hexenprozesse« von 1914, »Neuenglands Platz in der Geschichte der Hexerei«, der Artikel über Andrew D. White im »Handbuch der Amerikanischen Geschichte«,
    »Die Karlowinger Revolution« und die »Intervention Frankreichs in Italien« in der Cambridger »Geschichte des Mittelalters«.
    George Lincoln war darüber nicht verbittert, sondern sah es mit heiterer Gelassenheit. Seit dem Ende des Weltkriegs hatte er den größten Teil seiner Energie im Kampf gegen die amerikanische Hysterie verbraucht. Für die Freiheit der Geschichtsschreibung, die Freiheit der Religionen, die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Rassen, die Freiheit der Meinungen. Nicht für die Freiheit seiner eigenen Meinung, sondern die der Andersdenkenden.
    Burr unternahm einen neuen Anlauf und machte sich über die Briefe her. Allein die Beantwortung würde Wochen
    beanspruchen. Aber so viel Zeit hatte er nicht.
    Draußen begann es bereits zu dunkeln. Entschlossen steckte er ein Buchmanuskript mit der Bitte um Überprüfung zurück in den Umschlag, holte eine Taschenlampe und ging hinunter auf den Campus. Dort kroch er unter Bäume und Büsche, fand etwas trockenes Holz, das er zu einem Haufen aufschichtete.
    Dann kehrte er in seine Wohnung zurück und begann Stapel für Stapel nach unten zu tragen. Um Mitternacht war er so weit. Ein
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