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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong
Autoren: John Burdett
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sein, wie selbstgefällig der Westen an dem Glauben festhält, daß die Evolution irgendwann einmal in die weltweite Demokratie münden wird. Mit anderen Worten: Er will ein Abbild seiner selbst aufstellen. Der Westen hat ja keine Ahnung. Das moderne China ist kaum zwanzig Jahre alt, wenn man den Beginn der Kulturrevolution als den Augenblick nimmt, in dem das alte China für immer vernichtet wurde. Das war auch der Moment, in dem sie das alte Peking zerstört haben – weil es so schön war. Als Polizist wissen Sie sicher, welches Tier die Schönheit unerträglich findet: der menschliche Mutant. Die Bestie. Wenn der Westen auch nur einen Funken Verstand hätte, würde er vor Angst zittern.«
    »Ich würde Sie gern verstehen.« Cuthbert sah Chan erstaunt an. Chan hatte den Satz auf Kantonesisch gesagt; in dieser Sprache klang er voller Hochachtung und echtem Interesse.
    »Das ist nicht schwierig. Gehen Sie nur davon aus, daß der Westen genau das Gegenteil von allem glaubt, was eintreffen wird. Nehmen Sie an, China ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Nehmen Sie an, daß die Leute jenseits der Grenze ihre kleinen Mädchen aus einem besonderen Grund ermorden, nein, nicht mit Vorsatz, aber als kollektive, psychologische Reaktion auf eine Situation, für die der Mensch nicht geschaffen ist.«
    »Sie meinen, es gibt dort zu viele Menschen?«
    »Eins Komma fünf Milliarden bei der letzten Zählung. Machen Sie sich überhaupt Vorstellungen, welch ein Verwaltungsaufwand nötig ist, um eine so große Zahl von Menschen zu ernähren? Sie sind schon mal in Peking gewesen und wissen, daß man dort ein gewisses Durchsetzungsvermögen mitbringen muß, um überhaupt mit einem Bus fahren zu können. Und im Jahr 2000 werden achtzig Prozent der chinesischen Bevölkerung junge Männer sein.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, daß Freiheit, Demokratie, Liberalismus drollige Konzepte des neunzehnten Jahrhunderts sind, deren Verfallsdatum überschritten ist. Schon bald wird dieser ganze Luxus von den Ungeheuern weggefegt werden, die von Ungeheuern gezeugt und von Ungeheuern regiert werden. Die extreme Gefühlskälte wird dem Westen den Boden unter den Füßen wegziehen. Und keine Macht der Erde wird in der Lage sein, das Problem China in den Griff zu bekommen. Ich will damit sagen, mein Freund, daß Xian nicht nur ein gewöhnlicher Verbrecher oder Warlord ist. Er ist ein Visionär. Er ist die Zukunft.«
    »Und deswegen braucht er eine Atombombe? Weil es zu viele Menschen gibt?«
    Cuthbert zuckte mit den Achseln. »Ich bezweifle, daß er sich die Mühe gemacht hat, das zu Ende zu denken. Allerdings bleibt die Binsenwahrheit bestehen: Wenn wirklich alle nur dem Lebensraum nachjagen, taugt nichts besser dazu, sich Platz zu verschaffen, als radioaktive Strahlung.«
    »Ich verstehe das immer noch nicht – dieses Ungeheuer, das Ungetüm, das die Frau vernichtet hat, die Sie liebten –, Sie haben den größten Teil Ihrer Laufbahn damit verbracht, das zu tun, was er Ihnen befiehlt?«
    Cuthbert fingerte an seinem Zigarettenetui herum. Allmählich wurden seine Worte undeutlich. »Ich krieche ihm in den Arsch.«
    Er hob die kalte Zigarette mit einer Hand hoch und verlagerte das Gewicht vom einen Fuß auf den anderen. Die schwarze Fliege hing noch immer über seinem Frackhemd; er starrte Chan fast schon ungläubig an. » Ich krieche ihm in den Arsch. «

SECHSUNDFÜNFZIG
    Chans zweite Rehabilitation kam in Form eines Rundschreibens von Commissioner Tsui: In den Ermittlungen zum Mordfall Emily Ping waren Beweisstücke gefälscht worden. Es hatte sich herausgestellt, daß Chief Inspector Chans Fingerabdrücke doch nicht von dem Gürtel stammten, der um ihren Hals gelegt war.
    Um seinen Kollegen Gelegenheit zu geben, sich an die neuesten Entwicklungen zu gewöhnen, nahm Chan einen Tag frei. Er las gerade Neunzehnhundertvierundachtzig noch einmal, als Aston anrief: Einer der Männer, die in dem Gebäude arbeiteten, wo seinerzeit der Bottich gefunden worden war, hatte angerufen, um verdächtige Dinge zu melden. Auf die Frage, was genau er denn verdächtig finde, hatte der Anrufer »Ich weiß nicht so genau« geantwortet und aufgelegt. Diesmal war Chan entschlossen, sich Rückendeckung zu holen. Er rief Riley und Cuthbert an und vereinbarte zusammen mit Aston ein Treffen in dem Lagerhaus.
    Sie warteten bereits im Erdgeschoß auf ihn und folgten ihm in den Lift. Die Polizeisperren waren noch immer nicht weggeräumt,
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