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Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Titel: Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Autoren: Henryk M. Broder
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Spiel. Und damit dieser erhalten bleibe, müsse man die Lasten »gerecht« verteilen.
    Diese Argumentation ist so schief wie der Turm von Pisa. Dazu unlogisch und konstruiert. Aber darauf kommt es nicht an. Sie wird auch nicht dadurch besser, dass sie ständig wiederholt wird. Wir hören und lesen jeden Tag, Europa sei »ein Haus des Friedens«, ohne die europäische Integration gäbe es längst wieder Krieg, und dass man alles, aber auch wirklich alles tun müsse, damit es mit der Integration weitergeht und der Frieden erhalten bleibt. Nicht zufällig wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis 2012 ausgezeichnet. Ich bin jetzt also Teil einer Friedensnobelpreisträgergemeinschaft. Einer von 500 Millionen Europäern. Ich sollte stolz darauf sein. Wenn ich nicht eine angeborene Allergie gegen »Gemeinschaften« hätte. Ich möchte, wie Groucho Marx, keinem Verein angehören, der darauf besteht, dass ich ihm beitreten soll. Es reicht mir schon, dass ich mir meine Eltern, meinen Geburtsort, meine Nationalität und meine Religion nicht aussuchen konnte, dass ich sozusagen vorfabriziert, vorgeprägt, vorbestimmt auf die Welt gekommen bin. Dabei habe ich noch Glück gehabt. Als Angehöriger der untersten Kaste in Indien wäre ich schlimmer dran. Dagegen ist das Leben als Beutedeutscher mit polnisch-jüdischem Migrationshintergrund der reine Luxus.
    Aber ich möchte weder ein Europäer honoris causa sein noch dazu zwangsverpflichtet werden, mich als Europäer fühlen zu müssen. Schon gar nicht von Leuten, die ihr Europäertum zu einem Beruf gemacht haben. Europa, sagt der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, ist »kein Ort, sondern eine Idee«. Das hört sich erst einmal gut an, ist aber eine hohle Formel, die jeder nach eigenem Gusto mit Inhalt füllen kann. Also nutzlos. Man kann auch nicht für oder gegen Europa sein. Das ist so, als wäre man für oder gegen das Wetter. Man kann aber Meteorologen, die das Wetter vorhersagen oder es zumindest versuchen, misstrauen. So wie man Demoskopen, die Wahlergebnisse prognostizieren, misstrauen sollte. In diesem Sinne habe ich kein Vertrauen zu den Berufseuropäern. Und ich erkläre Ihnen gerne, warum Sie gut daran täten, meinem Beispiel zu folgen.

2. Gut, dass wir darüber gesprochen haben
    Fast jeder Witz, in dem es um Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Angehörige verwandter Berufe geht, endet mit der Pointe: »Gut, dass wir darüber gesprochen haben!« Über etwas gesprochen zu haben, verschafft den Beteiligten eine Art von immaterieller Befriedigung, wie sie auch eintritt, wenn man ein schlafendes Kleinkind anschaut. Diese Reinheit, diese Unschuld! Man möchte sein Leben dafür geben, dass es so bleibt.
    So war es auch am Ende des EU -Frühjahrsgipfels in Brüssel im März 2013. Die EU -Politiker diskutierten darüber, so hieß es in den Medien, »wie man Sparmaßnahmen durchsetzen kann, ohne dem wirtschaftlichen Wachstum entgegenzuwirken«, das heißt, wie man gleichzeitig bremsen und Gas geben kann, ohne die Kontrolle über das Auto zu verlieren. Dieses Paradox hören wir seither als Mantra fast aller Politiker, die sich öffentlich zur europäischen Wirtschaftspolitik äußern. Sparen und investieren. Investieren und sparen. Und immer an die Konjunktur denken!
    Hätte sich eine Konferenz der Weight Watchers mit dem Thema beschäftigt, wie man schlemmen kann, ohne an Gewicht zuzunehmen, wäre daraus eine witzige Reportage in der »heute show« mit Oliver Welke geworden. Weil es aber eine Konferenz der 27 EU -Staats- und Regierungschefs war, wurde die Sache ernst genommen, musste man in den Berichten den Witz zwischen den Zeilen beziehungsweise in den Originaltönen suchen.
    Herman Van Rompuy, der EU -Präsident, verglich Europas Weg zur Erholung mit einem »Langstreckenrennen«, man habe bereits viele Hindernisse hinter sich gelassen, »doch diese Ergebnisse führen noch nicht zu stärkerem Wachstum und mehr Jobs, das ist es, was den Menschen jetzt wehtut, dort muss unser Fokus sein«. Die EU , so Van Rompuy, müsse »wirtschaftliche Turbulenzen vermeiden, gesunde Staatshaushalte sichern, Arbeitslosigkeit bekämpfen und langfristiges Wachstum fördern«, alles gleichzeitig.
    Das klang wie der Katalog der guten Vorsätze, die jeder von uns am 31. Dezember kurz vor Mitternacht fasst: nicht mehr rauchen, weniger trinken, gesünder essen und mehr Zeit mit der Familie verbringen, ohne den Job und die Freunde zu vernachlässigen.
    Der Präsident des EU
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