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Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Titel: Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Autoren: Henryk M. Broder
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Denn die Concorde symbolisierte nicht nur »Modernität« und »technische Leistung«, sie war »zugleich ein ästhetisches Juwel«, so die Tageszeitung »Liberation« nach der Katastrophe, die 113 Menschen das Leben kostete. Bis heute rätseln und spekulieren die Historiker darüber, ob es nur ein Versprecher von Günter Schabowski, dem neu ernannten Sekretär des Zentralkomitees der SED für das Informationswesen, war, als er bei der legendären Pressekonferenz vom 9. November 1989 auf die Frage eines Journalisten erklärt hatte, die neue Reiseregelung für DDR -Bürger sei »ab sofort« in Kraft. Schabowskis Äußerung führte zu einem Massensturm auf die Grenzanlagen und zur Öffnung der Mauer durch die verwirrten und überforderten Grenzschützer.
    Ob es nun um die Challenger, die Concorde oder das Grenzregime der DDR geht, immer wieder beweist das Sprichwort »kleine Ursachen, große Folgen« seine Gültigkeit. Man kann sich und anderen lange etwas vormachen, die Augen vor der Realität verschließen, so tun, als sei alles in Ordnung, als habe man alles unter Kontrolle. Irgendwann kommt der Moment der Wahrheit, und je länger man ihn vor sich herschiebt, umso gnadenloser schlägt er ein.
    Das Dritte Reich war nach nur zwölf Jahren am Ende, es dauerte – vor dem Hintergrund der Weltgeschichte – eine Millisekunde. Dennoch sind seine Nachbeben bis heute spürbar. Die Sowjetunion brauchte 70 Jahre, um zu implodieren, die DDR immerhin 40. Eine Fiktion kann auf vielerlei Weise am Leben erhalten werden: durch sanfte Propaganda, brutale Gewalt, eine Mischung aus diesem und jenem und allem Möglichen dazwischen. Wenn es dann vorbei ist, kommen die Propheten aus der Deckung und rufen: »Wir haben es kommen sehen!« Leider haben sie es nicht kommen sehen, bevor es passiert ist. Wie die Börsenexperten, die uns einen Tag nach dem Crash sagen, warum er nicht zu vermeiden war, eine Erkenntnis, die sie uns einen Tag vor dem Crash nicht mitteilen mochten.
    Ich misstraue grundsätzlich allen Experten. Ob es nun um Politik, Wirtschaft, das Klima, die Energiewende, Warentermingeschäfte oder die Kursentwicklung des südafrikanischen Rand geht. Wenn diese Experten nur unbedarft wären, könnte man sie gewähren lassen. Aber sie sind anmaßend, präpotent und außerstande, ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Deswegen erklären sie alles, das sie nicht erklären können, zu »komplexen Vorgängen«. »Komplex« bedeutet in diesem Zusammenhang: »Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede, aber ich tu mal so, als wüsste ich Bescheid. Denn ich bin ein Experte. Und du bist es nicht.«
    Ich bin in der Tat nicht in der Lage, Einsteins Relativitätstheorie zu begreifen; der Blick aus dem dritten Stock meiner Berliner Wohnung geht nicht weit genug, damit ich die Erdkrümmung erkennen kann. Also verlasse ich mich darauf, dass Einstein mit seiner simplen Formel richtig lag, und da mein Computer in Berlin genauso gut funktioniert wie am Potomac River, ist mir das Beleg genug; und ich vertraue auch darauf, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, die sich um die Sonne dreht.
    Allem Expertentum zum Trotz gibt es so etwas wie den gesunden Menschenverstand, die Briten nennen es »Common sense«. Der sagt mir, dass ich eine Weile auf Kredit einkaufen kann (so wie man früher beim Krämer an der Ecke hat anschreiben lassen), dass ich aber eines Tages die offene Rechnung begleichen muss. Tue ich es nicht, bekomme ich keinen Kredit mehr. Oder derjenige, der mir Kredit gegeben hat, macht Pleite, denn ich bin nicht der Einzige, der bei ihm in der Kreide steht und nicht zahlen mag oder kann.
    Das ist doch ganz einfach, nicht wahr? Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muss man nicht Nationalökonomie studiert und alle Theorien von John Maynard Keynes bis Ludwig von Mises parat haben. Es genügt zu wissen, dass auf Dauer Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht sein müssen, wobei es von Vorteil wäre, ein wenig mehr einzunehmen als auszugeben, damit man sich entweder etwas außerhalb der Reihe leisten kann, eine Reise um die Welt zum Beispiel, oder eine Rücklage für unvorhergesehene Notfälle hat.
    Es gibt freilich eine Möglichkeit, diese Regel auszuhebeln. Ich könnte meinen Nachbarn, der vermögender ist als ich, weil er einen besser bezahlten Job oder etwas geerbt hat, bitten, mich zu unterstützen. Ich würde natürlich nicht bei ihm klingeln, die Hand aufhalten und sagen: »Gib mir Geld, du hast mehr als ich!« Nein, ich würde es
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