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Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Titel: Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Autoren: Henryk M. Broder
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entschieden gegen die weitere Einrichtung eines Superstaates, der unter dem Vorwand, nationale Souveränität abzuschaffen oder abzubauen, ein Phantom kreiert, das einerseits allgegenwärtig, andererseits – in des Wortes doppelter Bedeutung – unfassbar ist. Mit einem Parlament, das kaum etwas zu sagen hat, einer »Kommission«, die dem Parlament keine Rechenschaft schuldet, einem Rat (Consilium) der Europäischen Union, der Vertretung der 28 Länder, die auch als »Gesetzgeber« agiert und die man nicht mit dem Europarat (Council of Europe) verwechseln sollte, dem 47 Staaten angehören, darunter Armenien, die Ukraine und die Republik Moldau; und schließlich einer Kanzlerin, die per »ordre de mufti« bereits gefasste Beschlüsse vom Tisch wischen kann, wie Ende Juni die Einführung von strengeren CO 2 -Werten für Neuwagen, die mit den Interessen der deutschen Automobilindustrie nicht zu vereinbaren waren, worauf die Kanzlerin, wie Spiegel Online berichtete, zum Hörer gegriffen und dafür gesorgt habe, dass die entscheidende Abstimmung im Rat »verschoben« wurde. Während ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble in Zusammenarbeit mit der » CDU -nahen« Konrad-Adenauer-Stiftung eine »Infotour mit 50 Informationsveranstaltungen an allgemein- und berufsbildenden Schulen in ganz Deutschland« organisieren ließ, um Schüler mit einer »Argumentationshilfe zum Thema Euro und Eurokrisenmanagement« vertraut zu machen. Wem da die Begriffe »Agitation« und »Indoktrination« einfallen, der denkt in die richtige Richtung.
    Das Einzige, was ich empfehle, ist ein Moratorium, eine Auszeit, in der nichts beschlossen und nichts verkündet wird. Die EU wird weder erweitert noch vertieft, sie wird »on hold« gestellt, wie Anrufer in einem überlasteten Callcenter. Während dieser Auszeit findet eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas statt. In jedem Land und grenzübergreifend. Eine Debatte, an der sich jeder beteiligen kann. So wie es der britische Premierminister Cameron für sein Land vorgeschlagen hat. Und nach zwei, drei oder vier Jahren wird dann abgestimmt, für oder gegen den Euro, für oder gegen die EU , in welcher Form auch immer, als Bundesstaat, als Staatenbund, als lose Föderation, als Kibbuz, als Kolchose, als eine börsennotierte AG oder eine GmbH & Co. KG . Es muss nur endlich Schluss sein mit dem Diktat der Alternativlosigkeit, mit der Politik der Notverordnungen von oben. Der Euro kann nur ein Mittel zum Zweck sein, nicht das Ziel an sich. Hilft ein Mittel nicht oder schadet es gar dem Patienten, muss es neu dosiert oder abgesetzt werden. Jeder Arzt weiß das, nur die Politiker und ihre Berater tun sich schwer mit dieser Einsicht.
    Der Euro ist eine bequeme und praktische Schönwetterwährung (vulgo: er hat funktioniert, solange mit ständiger Schuldenmacherei alle Probleme unter den Teppich subventioniert werden konnten), taugt aber offensichtlich nicht für stürmische Zeiten. Ihm geht aber auch deshalb die Puste aus, weil er uns zwangsverordnet wurde. Der »große Europäer« Helmut Kohl hat schon kurz nach dem »Coup« mit stolzgeschwellter Brust zugegeben: »Bei der Euro-Einführung war ich ein Diktator.«
    Ich fürchte, mein Plädoyer für eine Auszeit ist eine Illusion. Die EU hat keine Zeit, eine Pause einzulegen. Der Fahrer eines Wagens, der mit defekten Bremsen einen Berg hinunterrollt, würde auch nicht zu einer Landkarte greifen, um zu schauen, ob es noch einen anderen Weg gibt, auf den er ausweichen könnte. Er wird sich am Steuer festhalten und beten, dass ein Wunder passiert. Denn die nächste Krise lauert schon um die Ecke. Zypern will mehr Geld, Griechenland will einen weiteren Schuldenschnitt, Frankreich und Italien steht das Wasser bis zum Kinn, Slowenien ist fast pleite. Deutschland hat im Rahmen der Eurorettung Verpflichtungen von über 700 Milliarden Euro übernommen. Falls nur ein Teil davon fällig wird, gehen an der Alster und in der Maximilianstraße die Lichter aus. Wir sind des Wahnsinns fette Beute. Was das bedeutet, hat der bayerische Dichter und Nervenarzt Oskar Panizza schon vor über 100 Jahren klar erkannt: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.«
    Berlin, am Independence Day 2013
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