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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
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tauchte in die kopfsteingepflasterte Gasse, die leicht bergan stieg und die so schmal war, dass man den Eindruck hatte, die Menschen könnten sich aus den Häusern rechts und links herauslehnen und einander ohne große Schwierigkeiten die Hände schütteln. Tatsächlich waren die Häuser sehr alt und neigten sich fast alle mit den oberen Stockwerken ein Stück nach vorn. Touristen, die nach Langbury kamen, begeisterten sich an den Häusern, gerade weil sie so schmalbrüstig und schief waren. So alt, so englisch!
    Sie dachte, dass man die zugigen, engen Kästen mit den schlecht schließenden, viel zu kleinen Fenstern, den winzigen Räumen und halsbrecherisch steilen Treppen im Innern nur bejubeln konnte, wenn man selbst nicht darin leben musste. Hatten sich die Leute mal überlegt, wie wenig Licht in die Zimmer dringen konnte? Wie dunkel es darin sein musste, selbst im Sommer? Wie beengt man hauste? Aber natürlich machte sich niemand darüber Gedanken. Man nannte das Bild, das das kleine Dorf in Northumberland bot, romantisch und kehrte dann nach Hause zurück, wo man es heller, komfortabler und großzügiger hatte.
    Obwohl sie froh sein musste, die Wohnung gefunden zu haben, keine Frage. Und die Arbeit bei Mr. McDrummond. Als sie ihren letzten Job verloren hatte – sie hatte im Lager eines Schuhgeschäfts die Ware sortiert und etikettiert –, war sie völlig verzweifelt gewesen. Nicht, dass diese Tätigkeit ihr besonders viel Spaß gemacht hätte, aber sie hatte sich in dem abgeschiedenen Raum so fern der Welt und damit sicher gefühlt. Außer ihren Kollegen traf sie kaum je einen Menschen. Es war nicht das Leben, von dem sie geträumt hatte, aber es hatte ihr allmählich eine innere Ruhe vermittelt, die schwerer wog als Anflüge von Einsamkeit und das Bewusstsein, dass das eigentliche Leben an ihr vorüberging. Die Angst war das Schlimmste. Jedes Bollwerk gegen die Angst, und wenn es sie gleichzeitig gegen Menschen, Freundschaften und Liebe blockierte, war willkommen.
    In einem Pub hatte sie eigentlich zuallerletzt arbeiten wollen. Die meisten Gäste dort waren Menschen aus dem Dorf, aber gerade im Sommer kamen auch viele Touristen. Fremde. Jeder konnte kommen, jeden Augenblick. Auch …
    Sie arbeitete seit dem vergangenen Juni im Elephant. Aber noch immer schrak sie zusammen, wenn sich die Tür von draußen öffnete. Noch immer brach ihr der Schweiß in den Handflächen aus. Noch immer dauerte es Minuten, ehe sich Herzschlag und Puls halbwegs normalisiert hatten.
    Sie hatte einfach keinen anderen Job gefunden. Zwei Mieten war sie schon im Rückstand gewesen. Mr. Cadwick, der Hausbesitzer, der in der Wohnung unter ihr wohnte, hatte ihr ständig im Treppenhaus aufgelauert. »So geht das nicht weiter. Sie können hier nicht umsonst wohnen. Ich bin kein Wohltätigkeitsverein. Wenn ich nicht nächste Woche das Geld habe, rufe ich die Polizei!«
    In ihrer Not hatte sie die Stelle im Elephant angenommen. Justin zahlte nicht schlecht, und zusammen mit dem Trinkgeld verdiente sie nun besser als vorher. Dafür schlief sie schlechter und hatte wieder an Gewicht verloren. Sie hielt Ausschau nach einer anderen Tätigkeit, hatte aber bislang nichts gefunden.
    Sie hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt und hielt für einen Moment inne. Eigentlich besaß sie eine gute Kondition, aber sie hatte in ihrer Verspannung und Furcht wieder einmal falsch geatmet und wurde nun von heftigem Seitenstechen geplagt. Die Hand an die Taille gepresst, versuchte sie tief Luft zu holen. Rechts und links von ihr lagen schwarz und stumm die tiefen Hauseingänge. Als sie daran dachte, was und wer sich alles ganz leicht dort verbergen konnte, atmete sie sofort wieder verkrampft und spürte, wie die Schmerzen schlimmer wurden. Es hatte keinen Sinn, hier stehen zu bleiben, es machte sie nur verrückt.
    Du bist neurotisch, schimpfte sie mit sich, während sie weiterlief, total neurotisch. Irgendwann drehst du noch komplett durch!
    Aber wer gesehen hatte, was sie gesehen hatte. Wer erlebt hatte …
    Nicht weiterdenken. Sie hatte noch etwa zweihundert Meter zu laufen. Wenn sie erst in der Wohnung war, wenn sie festgestellt hatte, dass sich niemand dort verborgen hielt, wenn sie die Fensterläden verriegelt und verrammelt hatte und unter ihrer warmen Bettdecke lag, eine Wärmflasche auf dem Bauch und ein Glas heiße Milch mit Honig neben sich, dann würde es ihr besser gehen. Dann würde sie sich sicherer fühlen. Und wissen, dass sie wieder einen Tag
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