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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
Autoren: Anthony Mark
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hatte von Tieren in Afrika gehandelt. Ein sich in seinem Schlammloch suhlender Wasserbüffel hatte genau die gleichen Laute von sich gegeben. Anscheinend war Mrs. Fulch das von ihr selbst zubereitete Essen nicht bekommen. Wieder einmal. Das bedeutete, dass Grace in dieser Nacht mindestens drei- oder viermal von ihrem Watscheln aufgeweckt werden würde, wenn sie zum Bad wankte. Oder das hätte es zumindest, wenn Grace hätte schlafen können.
    »Grace …«
    Das Flüstern war kaum hörbar, dennoch hallte es durch den Schlafsaal.
    »Hey, Gracie …«
    Ein Kichern.
    Grace erstarrte. Sprechen nach dem Löschen der Lichter war ein Verstoß gegen die Regeln. Genau wie Aufstehen, ganz egal, wie dringend man auch zur Toilette musste, nachdem man Mrs. Fulch hatte zuhören müssen.
    Bettnässen selbst war nicht gegen die Regeln – und es passierte oft. An manchen Tagen flatterten die von gelben Flecken gekrönten Laken auf der Wäscheleine hinter dem Waisenhaus wie Flaggen im Wind, der von den Bergen Colorados kam. Trotzdem brachte einem ein beschmutztes Bett einen Klaps oder auch mehr von Mrs. Murtaugh ein, der Haushälterin, oder, wenn sie zu viel zu tun hatte, auch von ihrem Mann, dem Hausmeister – und Mr. Murtaughs große Hände waren von der Arbeit ganz rau und hart. Grace hatte gelernt, vor dem Zu-Bett-Gehen nicht zu viel zu trinken.
    »Wir kommen und holen dich, Gracie.« Noch mehr Gekicher, das schnell erstarb. Ein weiteres Flüstern, diesmal übertrieben schrill. »Ich bin es, Mrs. Fulch, und hier ist Mr. Holiday.« Schmatzende Kussgeräusche. »Wir wollen dich zu unserem ganz besonderen Mädchen machen, Gracie.« Hände griffen aus der Dunkelheit zu, tasteten nach ihrem Nachthemd.
    Grace setzte sich auf. »Lasst mich in Ruhe.«
    Sie flüsterte die Worte nicht, obwohl Mrs. Broud, die Aufseherin der ersten Etage, direkt vor der Tür auf ihrem Stuhl sitzen würde.
    Die Hände zuckten zurück.
    »Du kleines …« – ein Wort folgte, das Grace nicht verstand – »… du hältst besser die Klappe.«
    Das war Mattie Winter. Sie benutzte gern Wörter, die sie aufschnappte, indem sie sich in Hörweite von Mr. Murtaugh herumdrückte. Der Hausmeister hatte die Angewohnheit, bei der Arbeit ununterbrochen zu fluchen; er schien es nicht einmal zu bemerken.
    »Hat sie uns gehört?«, flüsterte eine dünne und bemitleidenswerte Stimme. Lisbeth Carter. Sie konnte nur in jammerndem Tonfall sprechen; es hatte etwas damit zu tun, dass ihre Nase im Inneren zu schmal war, um sie richtig atmen zu lassen. Im Augenblick war sie Matties Schatten.
    In der Dunkelheit konnte Grace nur ihre Umrisse ausmachen: Die eine war groß und dick, die andere knochig und dürr. Als Mattie vor zwei Jahren ins Waisenhaus gekommen war, hatte sie sich selbst zur Königin des Mädchenschlafsaals der ersten Etage gekrönt, und keines der anderen Mädchen hatte etwas dagegen gehabt – jedenfalls nicht ohne zur Belohnung Matties Faust in den Magen zu kriegen. Grace ging Mattie nach Möglichkeit aus dem Weg, und sie hatte damit auch meistens Erfolg gehabt, aber vor ein paar Monaten war das andere Mädchen ihr ständiges Schweigen anscheinend leid gewesen. Seitdem hatte sie unablässig daran gearbeitet, Grace zu provozieren. Bis jetzt ohne Erfolg.
    »Ich sagte, ihr sollt mich in Ruhe lassen.« Grace senkte ihre Stimme nicht.
    Ein unterdrücktes Quieken. Das war wieder Lisbeth. »O Gott, ich habe etwas gehört! War das die Tür? Was sollen wir bloß tun, Mattie? Die Broud hört doch alles!«
    »Vor allem dein Gejammer«, zischte Mattie. »Halt die Klappe, bevor ich sie dir stopfe.«
    Lisbeth hielt einen Schluchzer zurück. Ihr dürrer Schatten schlich quer durch den Raum auf ein Bett am anderen Ende zu.
    Matties Augen funkelten in dem verirrten Lichtschein, der unter der Tür hervordrang. Sie lauschte. Grace lauschte auch. Broud war eine verdorrte alte Frau, deren zu einem strengen Knoten zurückgekämmtes Haar Ohren enthüllte, die so lang wie die eines Esels waren. Und falls sie im Schlafsaal einen Laut hörte, würde sie hereinstürmen, die grelle Deckenlampe mit einem wütenden Ruck einschalten und wie ein Esel blöken.
    Stille. Nicht mal das trockene Geräusch, wie Mrs. Broud die vergilbten Seiten einer Ausgabe von Reader’s-Digest -Auswahlbüchern umblätterte.
    Warum sollte ich etwas Neues lesen?, hatte sie einmal auf Graces Frage gesagt. Seit fünfzig Jahren ist nichts Vernünftiges mehr geschrieben worden. Perverse, das sind die
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