Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
hatte die Nerven,
ausgerechnet in den Palazzo des Commissario
einzubrechen.
    Zehn Minuten
später stand er wieder auf dem Canalazzo und stellte fest,
dass sich der Schneefall verstärkt hatte. Aber es waren keine
großen Flocken, die gemütlich vom Himmel fielen, sondern
scharfe Eiskristalle, die ein sibirischer Wind über die Lagune
trieb und die sein Gesicht wie kleine Geschosse trafen.

4
    Die Derringer lag
sauber und glänzend auf dem fleckigen Küchentisch. Sie
war das einzige Stück Ordnung in dem eisigen Chaos, das ihn
hier umgab. Zwei blitzende Läufe, geladen mit zwei vier Gramm
schweren Bleikugeln. Die erste Kugel für die Schläfe, die
zweite für das Auge. Dabei würde zweimal ein
trockenes Paff zu hören sein. Niemand
würde das Geräusch mit einem Schuss in Verbindung
bringen. Er würde abdrücken, wenn sich Petrelli über
die Münzen beugte. Petrelli würde als glücklicher
Mann sterben.
    Die Wohnung an den
Fondamente Nuove war ein Ensemble aus halbzerbrochenen Möbeln,
leeren Weinflaschen und schmutzigem Geschirr. Der Frost hatte die
Innenseiten der Scheiben mit Eiskristallen überzogen, die
jetzt im Schein der Petroleumlampe wie kleine Diamanten funkelten.
Vor einer halben Stunde hatte er das letzte Brennholz verfeuert,
ohne dass die Temperatur im Zimmer merklich gestiegen wäre. Er
trug einen Mantel mit einem Kragen aus Otterpelz. Die russische
Tschapka auf dem Kopf ließ ihn wie einen Petersburger
Offizier aussehen.
    Er zog seine
Taschenuhr hervor und hielt sie unter die Petroleumlampe. Kurz vor
drei Uhr. Petrelli war vor zwei Stunden zum Palazzo Tron
aufgebrochen. Rechnete man eine halbe Stunde für den Hinweg,
eine halbe Stunde für den Rückweg und zwei Stunden
für die Suche, ergaben sich drei Stunden bis zu seiner
Rückkehr. Aber alles war ohnehin ein reines Glücksspiel
und der Erfolg so unwahrscheinlich wie ein Hauptgewinn in
der Lotteria
Veneziana.
    Doch wenn Petrelli
fündig geworden war - wie würden die Trons auf den
Einbruch reagieren? Würden sie Himmel und Hölle in
Bewegung setzen, um das Gestohlene wiederzugewinnen? Falls sie
überhaupt wussten, worum es sich dabei handelte. Gab es nicht
in jedem alten venezianischen Palazzo ein
Kuriositätenkabinett, in dem die Beutestücke und
Reiseandenken aufbewahrt wurden, die sich im Laufe der Jahrhunderte
angesammelt hatten? War es nicht denkbar, dass die kuriose
Geschichte, die sich mit diesem speziellen souvenir verband, im Lauf der
Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war? In diesem Fall
würde sich die Aufregung über den Einbruch in Grenzen
halten. Wenn das, was er wollte, dachte er seufzend, sich
überhaupt jemals im Palazzo Tron befunden hatte.
    Er nahm die Derringer
vom Tisch und genoss einen Moment lang die Berührung seiner
Finger mit dem schimmernden Perlmuttgriff. Dann steckte er sie in
die Manteltasche. Wenn Petrelli eine Waffe auf dem Tisch sah,
würde er womöglich misstrauisch. Er stand auf und trat
ans Fenster - ein sinnloser Vorgang, denn außer der
undeutlichen Spiegelung seines Gesichts war nichts zu erkennen. Er
ging zurück an den Tisch und trank einen Schluck von dem
wässerigen Kaffee, auf dem sich bereits eine hauchdünne
Eisschicht gebildet hatte - caffefreddo acquoso. Dann fragte er sich,
ob es nicht klug wäre, Petrelli auch dann zu töten, wenn
er mit leeren Händen auf der Schwelle
stand. Schon wegen seines erbärmlichen Kaffees.
    *
    Doch Petrelli kam
nicht mit leeren Händen zurück. Er kam erstaunlich
früh zurück, und es war überflüssig, ihn nach
dem Ausgang der Operation zu befragen. Sein Gesicht, Augenbrauen
und Schnurrbart voller Eiskristalle, glitzerte und funkelte wie ein
Weihnachtsbaum.
    Himmel, welch eine
Bescherung! Fast wäre er ihm um den Hals gefallen, aber er
rief sich noch rechtzeitig zur Ordnung. Dann musste er zweimal
schlucken, um Platz für die Worte zu schaffen. «Wo war
der Pokal?»
    «In einer
Vitrine in der sala », entgegnete Petrelli
fröhlich. Er zog einen ledernen Beutel unter seinem
schneebedeckten Mantel hervor. «Die Vitrine war mit einem
Tuch abgedeckt.»
    Mit einem Tuch
abgedeckt? In einer Vitrine im Ballsaal? Also
jederzeit zugänglich und zugleich den Blicken derjenigen
entzogen, die nicht zu den    
    Adepten gehörten und das
Geheimnis nicht kannten? Was konnte das bedeuten? Dies alles war
äußerst rätselhaft, aber darüber konnte er
später nachdenken. 
    «Stellen Sie den
Pokal auf den Tisch.»
    Er trat einen Schritt
zurück und sah, wie Petrelli seine Beute langsam
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher