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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune
Autoren: Nicolas Remin
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öffnen, dass er ins Freie treten
konnte.
    Er wandte sich nach
links, kämpfte sich fünfzig Schritte in Richtung Sacca
della Misericordia und bog dann in das Labyrinth der engen Gassen
ein, die zwischen den Fondamenta Nuove und dem Canal Grande lagen.
Hier, im Windschatten der Häuser, kam er gut voran. Er
fühlte sich leichtfüßig, beschwingt, so als
hätte er Champagner getrunken. Als er den Campo di Santi
Apostoli überquert hatte und sich dem Canalazzo näherte,
stellte er fest, dass er angefangen hatte, das Wiener Fiakerlied zu
pfeifen. Und
abends im Prater, da stürzen alle Neune. Das war ein alberner
Refrain, aber irgendwie schien er zu passen.

5
    Über Nacht hatte
es heftig geschneit, aber eine Kompanie Kroatischer Jäger war
bereits mit dem ersten Tageslicht ausgerückt, um den Canalazzo
vom Schnee zu befreien und in der Mitte einen gestreuten
Fußweg anzulegen. Jetzt, am frühen Vormittag, flanierten
Scharen von Einheimischen und Fremden über das Eis.
Schlittschuhläufer fuhren Kreise und drehten Pirouetten,
elegant wie Ballettmädchen am Teatro Fenice. Es war ein
wolkenloser, windstiller Wintertag, und die kleinen Rauchwolken
über den Maronen- und Frittoliniständen stiegen fast
senkrecht zum Himmel.
    Alvise Tron,
Commissario von San Marco, warf einen resignierten Blick auf die
Schlittschuhläufer vor dem Palazzo Balbi-Valier. Dann wandte
er sich vom Fenster ab, um wieder am Frühstückstisch
Platz zu nehmen. Er trug eine kordelgegürtete Hausjacke, dazu
eine Art Pluderhose und weiche Schuhe aus Saffianleder. Sein Haar
war an den Schläfen bereits ergraut, eine Brille mit Goldrand
gab ihm das Aussehen eines Gelehrten. Er hatte heute Morgen
festgestellt, dass die Schwellung an seinem linken
Fußknöchel deutlich abgeklungen war, hielt es jedoch
für klüger, den Schaden vorläufig ein wenig zu
übertreiben.
    Die Principessa di
Montalcino hob den Kopf, als er an den Tisch trat. Sie hatte ihre
blonden Haare, was sie immer morgens tat, zu einem lässigen
Dutt hochgesteckt. Der Dutt wurde von zwei Ebenholzpfeilen
zusammengehalten, die wie sich kreuzende Federhalter aussahen. Was
insofern zur Principessa passte, als sie ohne Federhalter selten zu
sehen war. Sie brauchte ihn, um die diktierte
Geschäftskorrespondenz zu korrigieren und die fertiggestellten
Briefe zu unterschreiben. Und sie brauchte ihn - Tron hatte es
mehrmals amüsiert beobachtet -, um ihn drohend in die Luft zu
stoßen, während sie ihren Angestellten Anweisungen
erteilte. Als der Fürst von Montalcino vor zehn Jahren starb
und sie zur Witwe machte, beschloss die Principessa, seine
Geschäfte fortzuführen. Alle Welt hatte ihr damals einen
kläglichen Bankrott prophezeit, doch die junge Witwe erwies
sich als hart und gerissen - härter und gerissener als die
meisten Männer, mit denen sie zu tun hatte. Dabei sah sie
ungeheuer weiblich und bildschön aus mit ihrem klaren
Botticelli-Profil, den grünen Augen und den Sommersprossen an
der Nasenwurzel. Trons Herz schlug jedes Mal schneller, wenn er sie
berührte.
    Wie lange waren sie
jetzt zusammen, ohne verheiratet zu sein? Vier Jahre? Fünf
Jahre? Und - die Rätselfrage - warum waren sie zusammen? Tron hatte
sich immer wieder gefragt, weshalb die Principessa ihn auf ihre
unterkühlte Art und Weise liebte. Ausgerechnet ihn - den kleinen
Commissario, der in seiner freien Zeit eine erfolglose Zeitschrift
namens Emporio della Poesia herausgab und seine
Arbeitsstunden meistens in Cafés an der Piazza verbrachte?
Faszinierte die Principessa das sagenhafte Alter seiner Familie?
Verdankte er sein Glück dem Umstand, dass die Trons bereits
Paläste bewohnt hatten, als der größte Teil der
Stadt noch ein Gewirr von schilfbewachsenen Inseln war? Tron
wusste, dass die Principessa sich leidenschaftlich gerne mit alten
und kostbaren Möbeln umgab. War das etwa der Grund für ihre
Zuneigung? Hatte sie eine Affäre mit einer Kommode ? War er die Kommode?
    Tron würgte
diesen komplexen Gedankengang ab und ließ sich seufzend am
Frühstückstisch nieder. Er hatte bereits ein Rührei
und zwei Croissants mit Orangenmarmelade verspeist und musste jetzt
eine Entscheidung treffen. Sollte er das Frühstück mit
frischen Erdbeeren oder mit frischer Ananas beschließen?
Ananas und Erdbeeren wurden für horrendes Geld aus
sizilianischen Gewächshäusern importiert, und die
Principessa versäumte nie eine Gelegenheit, ihn auf die Kosten
hinzuweisen. Sie sah ihn mit emporgezogenen Augenbrauen an. Kam
jetzt der Hinweis
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