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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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damals, als ich ein Kind in Sevilla war, den süßlichen Geruch der in Rosenbeeten und unter Bäumen begrabenen Leichen überlagerte. Die Sevillanos glaubten nämlich, dass die schönsten, duftendsten Rosen und die süßesten Orangen jene waren, die vom Fleisch nubischer Sklaven gedüngt wurden. Dieser Geruch menschlicher Verwesung und blühender Obstbäume fiel Besuchern, die sich der Stadt näherten, unweigerlich als Erstes auf.
    In Córdoba war der Guadalquivir kaum mehr als ein versandetes Flüsschen, doch auf seinem Weg nach Sevilla schwoll er zu einem breiten, olivfarbenen Strom an. Am frühen Morgen wimmelte es auf dem Wasser von Kähnen, schnellen Schaluppen, Feluken, Pinassen, Barkassen und piraguas . Die Güter, die diese kleinen Boote beförderten, waren für die Bäuche der großen Schiffe bestimmt, die nach Westindien und jenseits davon segelten. Diese kleinen Zubringer glichen den Bienensoldaten, die ihre unersättliche Königin fütterten.
    Schon damals weckte der Fluss meine Wanderlust, seinetwegen zog es mich in die Welt jenseits der Grenzen der Iberischen Halbinsel. Der Fluss war die Straße, die zum Mittelmeer führte, nach Westen, zum Atlantischen Ozean und den Kanarischen Inseln, auf halbem Weg zur wundersamen Neuen Welt. Junge Sevillanos , die Matrosen wurden – oft für den Rest ihres Lebens –, bezeichnete man als diejenigen, die »von der See verschlungen wurden«.
    Es gab keinen erhebenderen Anblick als die Handelsschiffflotten, die, flankiert von mächtigen Galeonen zum Schutz vor englischen Freibeutern und Korsaren, zwei Mal im Jahr zu der Welt aufbrachen, die Kolumbus entdeckt hatte. Wenn die Schiffe zum Hafen hinaussegelten, begleiteten sie die Hoffnungen der Sevillanos , die ihre Seefahrer mit festlichen Gesängen verabschiedeten. War diesen Abenteurern das Glück geneigt, kehrten sie beladen mit Gold und Glorie aus Westindien zurück.
    Meine kindliche Fantasie wurde beflügelt, wenn ich mit großen Augen die Ochsenkarren bestaunte, die rumpelnd zum Königlichen Schatzamt fuhren. Auf den Ladeflächen standen offene Truhen prall gefüllt mit funkelnden Smaragden, schimmernden Perlen und Türmen gleißender Silber- und Goldbarren. Auf anderen Wagen wurden Tabakballen befördert, Felle von in Europa unbekannten Tieren, Gewürze, Kokosnüsse, Kakao, Zucker, Indigo und Koschenille. Noch Wochen nach der Ankunft dieser Schiffe war ich berauscht von diesem Anblick, und in mir wurde die Sehnsucht wach, Neuspanien und Peru zu sehen.
    Im Herzen der Stadt waren die gepflasterten Gassen so schmal, dass ich, wenn ich sie mit ausgebreiteten Armen hinablief, die Mauern der Gebäude rechts und links gleichzeitig berührte. Diese Straßen waren die Schule, in der ich mit den Bräuchen und Trachten, den Religionen und Aberglauben, den Speisen, Gerüchen und Geräuschen anderer Völker vertraut wurde. Nach Sevilla kamen Händler mit ihren weißen, schwarzen und braunen Sklaven aus Afrika, aus den arabischen Ländern und der Neuen Welt. Die Namen der Länder, aus denen sie stammten – Mosambik, Dominica, Niger –, waren ebenso exotisch wie ihr Aussehen. Mir schwindelte von den vielen Sprachen, die ich nicht verstand, ja, von denen ich nicht einmal wusste, wo man sie sprach. Welche Geschichten erzählten sie? Was entging mir da? Würde ich je Gelegenheit haben, einige davon zu erlernen und die Länder zu bereisen, in denen sie gesprochen wurden?
    In jenen Jahren kam es mir vor, als lebte ich in der Zukunft, in einer Stadt, die nichts mit dem Rest Spaniens zu tun hatte. Pícaros aus aller Herren Länder – falsche Geistliche und Gelehrte, Hochstapler jeder denkbaren und undenkbaren Art, Taschendiebe, Betrüger, Falschmünzer, Schwertschlucker, Spieler, Meuchelmörder, Glücksritter, Totschläger jeder Fasson, Huren, Don Juans (deren Profession darin bestand, die schönsten und keuschesten Mädchen zuschanden zu machen), Zigeuner, Wahrsager, Feuerfresser, Fälscher, Puppenspieler, Gauner, bon vivants und Schlangenbeschwörer – kamen nach Sevilla und benutzten die Stadt als ihre Kulisse. Das Leben dort war gefährlich und erregend, festlich und blutig wie ein Stierkampf. Erfolgreiche Glücksspieler fanden dieselbe Bewunderung wie Stierkämpfer oder berühmte Helden des Militärs. Es war nicht ungewöhnlich, einen kleinen Jungen sagen zu hören, wenn er groß sei, wolle er ein Spieler wie Manolo Amor werden, der einmal eine ganze Galeonenflotte verspielt hatte, die ihm nicht gehörte.
    Sevilla war meine
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