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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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vielleicht ihre Kunst erlernen, und dann könnte ich eines Tages auch in solchen Stücken mitspielen, auch solch wunderbare Reden halten und Prinzen und Prinzessinnen darstellen, Könige und Königinnen, Christen und Mauren, Gelehrte und Narren, Diebe und Ritter.
    Am nächsten Morgen kamen mein Lehrer und meine Schulkameraden mir öde und farblos vor, aus derbem Holz geschnitzt. In dem Frühjahr ging ich jeden Tag nach der Schule zu den Schauspielern, half ihnen, die Pferde zu füttern und Ställe auszumisten, holte Wasser vom Brunnen innerhalb der Stadtmauern, und im Gegenzug dafür fanden sie sich nachsichtig mit meiner Anwesenheit ab und ließen mich ihre Vorstellungen umsonst ansehen.
    Besonders freundete ich mich mit Candela an, die doppelt so alt war wie ich. Sie half in der Küche und kümmerte sich um ihre jüngeren Geschwister. Ihre Augen waren so grün wie die jungen Blättchen der Orangenbäume im zeitigen Frühling, ihr Haar so schwarz wie das schwärzeste Stück Kohle, und sie tat überhaupt nicht so genierlich wie die anderen Mädchen, die ich kannte. Beim Arbeiten sang sie Romanzen und tanzte barfuß. Die Männer verschlangen sie mit den Augen. Candela hatte nie eine Schule besucht, und ihre Kleidung war dreckig und zerrissen. Als ich das Andreita gegenüber erwähnte, gab sie mir für sie einen Berg Kleider mit, aus denen meine Schwestern herausgewachsen waren. In Candelas Gesellschaft war ich am glücklichsten, und sie behandelte mich mit der Zärtlichkeit, die ältere Schwestern oft ihren kleineren Brüdern entgegenbringen.
    »Schaut euch nur die Turteltäubchen an«, spotteten die Schauspieler, sodass ich über und über errötete. »Aber sie könnte doch seine Mutter sein.« Oder: »Candela, du hast den Jungen verhext. Warum liebst du stattdessen nicht einen richtigen Mann?« Und: »Seht nur, wie der Rauch zu Miguelíns Ohren herausquillt. Candela, geh schnell mit ihm zum Fluss und tauch ihn unter, bevor sein Hirn verkocht.«
    Lachend gab Candela mir dann einen Kuss auf die Wange, und den Männern rief sie zu: »Sammelt lieber die Flöhe ab, die auf eurem Hinterteil nisten.« Von meinen Schwestern abgesehen, war sie das erste Mädchen, das ich küsste.
    Meine Mutter war vollauf damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass wir genug zu essen und saubere Kleidung zu tragen hatten, und bemerkte gar nicht, wie sehr ich dem Bann des Theaters erlegen war, bis eines Tages eine Nachbarin sie auf dem Markt fragte, ob ich Schauspieler werden wolle, wo ich doch ständig bei Maese Pedros Truppe stecke. An dem Abend bat mich meine Mutter, ehe ich schlafen ging, in die Küche, wo wir allein sein konnten, und setzte mich auf ihren Schoß. »Bitte, Miguel«, sagte sie inständig; Enttäuschung lag in ihrer Stimme und ihren Augen. »Treib dich nicht mit dem ehrlosen Schauspielervolk herum. Sie führen ein elendes Leben. Bitte werde kein nutzloser Träumer wie dein Vater. Einer in der Familie genügt. Gott hat dir einen klugen Kopf gegeben, also benütze ihn, um ein einträgliches Gewerbe zu erlernen.«
    Ich legte meiner Mutter die Arme um die Taille und versprach: »Ich werde mich anstrengen, mamacita , und einen ehrbaren Beruf ergreifen. Mach dir keine Sorgen.« Aber ich versprach ihr nicht, dass ich meine Freunde nicht mehr besuchen würde.
    Als die Truppe Anfang Juni für den Aufbruch zu packen begann, überlegte ich mir, ob ich nicht einfach mitfahren sollte. Das erzählte ich auch Candela.
    »Das würde mein Vater nicht erlauben«, sagte sie. »Die Justiz hat uns sowieso schon im Verdacht, dass wir Kinder stehlen. Wir führen ein hartes Leben, Miguelín. Die Leute kommen, um unsere Vorführungen zu sehen, sie lassen sich gerne von uns unterhalten, aber in ihren Augen sind wir allesamt Lügner und Heiden und genauso schlimm wie die Zigeuner.« Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, fast berührten sich unsere Nasenspitzen. Ich roch ihren Atem, der nach Zitronen duftete, in ihren großen grünen Augen spiegelten sich meine eigenen. »Warte ein paar Jahre. Wenn du groß bist und wenn du dann immer noch Lust hast, dann kannst du mitkommen.«
    Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass sie die Hände sinken lassen musste. »Das dauert noch Jahre, bis ich groß bin.«
    »Jetzt geh die Pferde füttern«, befahl sie mir, marschierte davon und rief nach ihren Geschwistern: »Martita, Julio, kommt ihr wohl gleich her!«
    Danach träumte ich, wie auch die nächsten Jahre immer zwischen Juni und April, von nichts anderem als
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