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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China
Autoren: Jules Verne
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Kiang-Nan gehörigen Ufer.
Drittes Capitel.
In dem der Leser ohne Beschwerde eine Ueberblick über die Stadt Shang-Haï gewinnt.
    Ein chinesisches Sprichwort sagt:
     

    Die beiden Freunde gingen langsamen Schrittes über den Quai. (S. 22.)
     
    »Wenn die Säbel rosten, glänzen die Spaten –
    »Wenn die Kerker leer werden, füllen sich die Speicher –
    »Wenn die Tempelstufen von den Tritten der Gläubigen abgenützt und die Gerichtshoftreppen mit Gras bedeckt sind –
    »Wenn die Aerzte zu Fuße gehen und die Fleischer reiten –
    »Dann ist das Reich am besten verwaltet.«
    Das Spichwort ist gut. Man könnte es wohl mit demselben Rechte auf alle Staaten der Alten und Neuen Welt anwenden. Wenn es aber überhaupt einen giebt, wo dieser fromme Wunsch seiner Erfüllung am fernsten ist, so ist
    das vor Allem das Himmlische Reich. Hier glänzen die Säbel und rosten die Spaten, hier strotzen die Kerker von Unglücklichen und leeren sich die Speicher. Die Fleischer gehen weit mehr zu Fuß als die Aerzte, und wenn auch die Pagoden noch fromme Seelen anlocken, so fehlt es dagegen auch den Gerichtshöfen niemals weder an Anklägern, noch an Vertheidigern.
    Uebrigens kann ein Reich von 180.000 Quadratmeilen, das von Norden nach Süden über 800, von Osten nach Westen mehr als 900 Meilen mißt, das ohne die Tributärstaaten, die Mongolei, Mantschurei, Tibet, Tonking, Korea, die Inseln Liu-Tchu u.a.m., allein achtzehn ungeheuere Provinzen umfaßt, ein solches Reich kann wohl auch niemals tadellos verwaltet werden.
     

    Der Sien-cheng wendete die Karte um. (S. 29.)
     
    Wenn die Chinesen darüber nur einen leisen Zweifel hegen, so sind alle Fremden in dieser Hinsicht vollkommen einig. Höchstens der Kaiser allein, der in seinem Palaste eingeschlossen lebt und nur sehr selten durch dessen, von einer dreifachen Stadtmauer beschützten Thore herauskommt, dieser Sohn des Himmels, der Vater und die Mutter seiner zahllosen Unterthanen, dem durch das Recht der Geburt die Einkünfte des Reiches zufließen, dieser Selbstherrscher, der nach Belieben Gesetze giebt oder aufhebt, dem das Recht über Leben und Tod Aller zusteht und vor dem sich alle Stirnen in den Staub beugen – nur er allein ist vielleicht der Meinung, daß hier Alles besser geordnet ist als in der übrigen Welt. Es wäre auch vergeblich, ihn davon überzeugen zu wollen, daß er sich irre. Ein Sohn des Himmels irrt sich eben niemals.
    Von Kin-Fo war man fast versucht zu glauben, daß er die europäische Regierungsweise der chinesischen vorzog. So wohnte er schon nicht in Shang-Hat, sondern außerhalb auf dem Gebiete der englischen Niederlassung, die sich eine gewisse Autonomie zu bewahren gewußt hat.
    Die eigentliche Stadt Shang-Haï liegt am linken Ufer des kleinen Flusses Huang-Pu, der sich rechtwinkelig mit dem Wusung vereinigt und in den Yantse-Kiang oder Blauen Fluß ausmündet, der dem Gelben Meere zuströmt.
    Sie bildet ein von Norden nach Süden verlaufendes Oval und hat in ihren hohen Mauern fünf nach den Vorstädten führende Thore. Ein unentwirrbares Netz mit groben Steinen gepflasterter Straßen, welche unsere modernen Reinigungsmaschinen bald verderben würden; dunkle Läden ohne Vorbau oder Schaufenster, in denen sich halbnackte Händler bewegen; kein Wagen, kein Palankin und nur selten ein Reiter; einige Tempel der Einheimischen neben Kapellen der Ausländer; an Stelle von Spaziergängen nichts als ein »Theegarten« und ein ziemlich morastiger Paradeplatz auf ausgefülltem Lande, das früher Reisplantagen einnahmen und dem noch heute sumpfige Gase entströmen; und in jenen Straßen mit ihren schmalen, aber tiefen Häusern eine Bevölkerung von über 200.000 Seelen – das ist das Bild dieser, bezüglich ihrer Wohnlichkeit wenig einladenden, für den Handel aber doch ungemein wichtigen Stadt.
    Hier war es nämlich, wo die Fremden nach dem Vertrage von Nan-King zuerst das Recht erlangten, Comptoirs zu errichten. Diese Stadt diente den europäischen Kaufleuten als das erste offene Thor für ihren Handel nach China. Außerhalb Shang-Haïs und seiner Vorstädte überließ dazu die Regierung gegen eine jährliche Rente drei Stück Land den Engländern, Amerikanern und Franzosen, welche zusammen etwa 2000 Köpfe zählen.
    Ueber die französische Niederlassung, die unbedeutendste von allen, ist nicht viel zu sagen. Dieselbe grenzt fast an die nördliche Umwallung der Stadt und reicht bis zu dem Bache Yang-King-Pang, der sie von dem englischen Gebiete trennt.
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