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Die Legende

Die Legende

Titel: Die Legende
Autoren: Johanna Marthens
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wirkte auf merkwürdige Weise vertraut. In Windeseile durchforstete ich mein Gedächtnis, aber ich fand nichts, was auf ihn hinweisen könnte. Wer war er? Er wirkte nicht wie ein Mullendorfer oder Moosberger, dafür war sein Anzug zu edel und seine Schuhe zu teuer. Er musste mit dem Fürsten angereist sein.
    Ich starrte ihn vermutlich viel zu lange musternd an, denn ich konnte sehen, wie er unbehaglich auf seinem Gartenstuhl, auf dem er Platz genommen hatte, hin und her rutschte.
    Um meine Neugier zu befriedigen, ging ich einfach auf ihn zu.
    »Hey«, sagte ich. »Schöner Abend heute.«
    Er nickte. »Das ist er. Tolles Anwesen für solch eine Veranstaltung.«
    Seine Stimme war dunkel und voll. Doch als ich sie hörte, klingelte nichts in meiner Erinnerung.
    »Ja, und normalerweise für die Öffentlichkeit gesperrt. Es könnte ja jemand den wertvollen Rasen platttreten. Es grenzt eigentlich an ein Wunder, dass wir hier sein dürfen.«
    Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen und sie zurückgenommen, denn der Typ konnte ein Verwandter der Gastgeber sein, Pedros liebster Patenonkel oder ein enger Freund der Familie. Doch er schmunzelte.
    »Vielleicht müssen ja morgen alle wiederkommen und die Grashalme aufrichten.«
    Da grinste ich. Irgendwie war mir der Mann sympathisch.
    »Und jeden Chip einzeln aus dem Pool fischen.«
    Er sah zum Swimmingpool, wo tatsächlich mehrere Kartoffelchips auf dem Wasser schwammen. Außerdem trieb eine Zeitung auf der Oberfläche, während ein schwarzer BH langsam auf den gefliesten Boden sank.
    Jetzt lachte er. Ein leises Kribbeln überzog meinen Körper, als ich es hörte, weil es mir unheimlich vertraut vorkam, doch ich wusste noch immer nicht woher. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Da ertönte auf einmal ein Schrei hinter mir. Entsetzt sah ich mich um, da ich diejenige kannte, die ihn ausgestoßen hatte. Es war meine Mutter. Sie hatte sich herausgeputzt, trug ihr bestes Kleid und die hohen Schuhe. Die Augenringe hatte sie mit Make-up kaschiert und die Lippen mit rotem Lippenstift angemalt. Aus der Ferne sah sie wirklich umwerfend aus. Sie starrte zu dem Mann, als würde sie einen Geist sehen.
    »Du elender Schuft wagst es, hierherzukommen?«
    Sie schrie den Fremden an, der ihr kein Fremder zu sein schien. Auch von der Seite konnte ich einen spitzen Schrei hören, der offensichtlich von meiner Schwester stammte, denn sie drängelte sich zu meiner Mutter durch, die wiederum in diesem Augenblick auf den Mann losstürmte.
    Kopfschüttelnd sah ich zu, wie meine Mutter sich vor den Fremden aufbaute, die Hände in die Hüften stemmte, während Isabelle an ihrem Arm zerrte und sie davon abhalten wollte, ihre Schimpftirade loszuwerden.
    »Was willst du hier, du Mistkerl? Jahrelang lässt du mich mit den Mädchen allein, keinen Cent sehe ich von dir, und nun tauchst du hier auf wie ein feiner Herr und spielst den reichen Pinkel. Was willst du hier? Dich an unserem Elend weiden?«
    Er stand auf und antwortete leise. »Hallo Sylvia. Es ist schön, dich hier zu sehen. Nein, ich will mich nicht an deinem Unglück weiden. Wie ich sehe, geht es dir gut.« Er betrachtete sie bewundernd. »Du bist noch genauso schön wie damals.«
    Er wollte ihren Arm nehmen, doch sie riss ihn weg. »Fass mich nicht an. Du bist gestorben für mich. Tot! Und mit Toten gebe ich mich nicht ab.«
    Sie drehte sich abrupt um und stakste davon, doch sie hatte wohl schon eine Menge getankt und wankte, als wäre ihr Schiff in einen Tsunami geraten. Meine Schwester folgte ihr.
    Das Kribbeln in meinem Körper war einem unangenehmen Schauder gewichen, denn ich ahnte nun, wen ich vor mir hatte. Meinen Vater.
    Meine Mutter erzählte immer allen, dass er tot sei, weil sie nicht zugeben wollte, dass er sie mit zwei kleinen Mädchen allein zurückgelassen hatte, aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Zu Weihnachten hatten meine Großeltern früher immer eine Karte geschickt, in der sie uns ein frohes Fest wünschten und auch von ihm grüßen ließen, aber meine Mutter hatte sie regelmäßig verbrannt, ohne sie uns vorzulesen. Ich wusste nur davon, weil ich vor drei Jahren vor ihr am Briefkasten gewesen war und eine solche Karte herausfischt hatte. Damals schrieben sie, dass sie es nun aufgeben würden, den Kontakt zu uns zu halten, da offenbar kein Interesse unsererseits bestünde. Darauf angesprochen, hatte meine Mutter mir die Karte aus der Hand gerissen und sie vor meinen
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