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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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schlafen auf ihrem Posten ein, sobald kein Feind in Sicht ist.«
    Der »Feind« ist längst da. Er schwenkt keine Fahnen, dröhnt keine Parolen und droht nicht mit Armeen. Er kommt auf den leisen Sohlen des moralischen Zerfalls. Nach Mill braucht eine Demokratie auf der obersten Führungsebene ausgewiesene und unbestechliche Experten. Nur wenn die Besten der Besten regierten, sei vertretbar, dass nicht das Volk selbst das Zepter der Macht schwinge. Die Experten in der Realität bundesdeutscher Demokratie aber finden sich gut getarnt und verschüttet hinter Stapeln ungelesener Expertisen, predigen in Büchern, die kein Politiker liest, oder versinken im Arbeitsalltag unserer Universitäten.
    Natürlich ist die Idee des Expertenstaates von Platons »Philosophenherrschern« bis zu Mills geistigen und moralischen Eliten weder zeitgemäß noch wünschenswert. Doch mehr Transparenz, mehr Phantasie und mehr Austausch zwischen Politik und Expertentum sind gleichwohl dringend erforderlich. Wozu eigentlich leistet sich unser Land seine Heerscharen an Professoren,
die über die Gesellschaft nachdenken, wenn man sie nicht regelmäßig befragt? Wie kann es sein, dass die flüchtige Arbeit der Meinungsforscher mehr politisches Gewicht hat als die vielen langfristigen und klugen Untersuchungen von Soziologen, Sozialpsychologen und Sozialphilosophen? Warum gibt es zwar Wirtschaftsweise, aber keine »Gesellschaftsweisen«? Noch nie in der Geschichte hat es so viel brachliegende Intelligenz gegeben und so viel politisch ignoriertes Wissen. Die Verdrängung der wirklich wichtigen, großen und langfristigen Probleme ist ein Stigma unserer Zeit und die Crux unseres politischen Systems.
    Verstärkt wird diese Ignoranz durch die Art und Weise, wie das System altert. Denn Demokratien, auch die bundesdeutsche, altern kaum weniger schlecht als andere Systeme auch. Die angelsächsischen Länder und Frankreich sprechen eine deutliche Sprache von der Herausbildung undemokratischer Eliten. In die Jahre gekommene Demokratien werden intransparenter und weniger durchlässig, die Schichten etablieren sich, der Austausch erlahmt. Und am Ende sind fast alle Liegestühle auf dem Dampfer dauerhaft reserviert.
    Das Risiko dabei ist offensichtlich: Was für die Wirtschaft gilt, gilt ebenso sehr für die Politik. Auch sie ist an Voraussetzungen gebunden, die sie nicht selbst erzeugen kann. Politik setzt ein Interesse an der Demokratie voraus, ein Vertrauen in die Regierenden und die Annahme von Wahrhaftigkeit: dass ein jeder sich müht, nicht zu seinem eigenen Besten, sondern zum Besten des Landes. Die Zweckrationalität des Regierens jedoch folgt einer ganz anderen Logik - das Kanzleramt ist nicht Deutschland. An der Macht zu bleiben verlangt nicht Wahrhaftigkeit und Fairness. Regieren gebiert keine Solidarität, sondern es verzehrt sie. Erneuernde Wechsel, die mehr sind als ein »Weiter so …« unter anderen Fahnen, sind deshalb unumgänglich.
    Keiner scheint mehr für die Demokratie zuständig zu sein. Die Gleichgültigkeit gegenüber den gefährlichen Symptomen und das Festhalten an überkommenen Ritualen zeigt dies deutlich.
Gemeint sind die vollmundigen Versprechungen bei Wahlkämpfen, von denen Politiker und Wähler wissen, dass sie nicht gehalten werden. Da ist das Garantieren einer sozialen Sicherheit, das schon mittelfristig niemand einhalten kann, was den Politikern aber nicht schadet, weil sie beim Eintreffen der Katastrophen nicht mehr im Amt sind. Das ist die überkommene Rhetorik von »Rechts« und »Links«, die nicht mehr zu den Problemen unserer Zeit passen will.
    Der Jargon, mit dem unsere Parteien sich von anderen unterscheiden wollen, ist heute schlichtweg albern. Gleichwohl spielt er nicht nur in Wahlkämpfen eine Rolle, sondern suggeriert den Parteien Identität und etabliert weiterhin überkommene Freund-Feind-Linien. Im politischen Alltag spielen diese Voreingenommenheiten zumeist nur eine hinderliche Rolle. Wenn Schuldirektoren ihren Posten nach politischem Proporz bekommen und ein Bundesminister den seinen, weil er evangelisch und Franke ist, wird die Absurdität offensichtlich.
    Doch warum bleiben solche überholten Rituale und Gewohnheiten bestehen? Der US-amerikanische Ökonom und Wirtschaftshistoriker Douglass North (*1920) von der Washington University in St. Louis etablierte dafür Anfang der 1990er Jahre das Wort »Pfadabhängigkeit«. 2 Seiner ursprünglichen Verwendung nach beschreibt der Begriff, wie neue Technologien
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