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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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neue festgeschriebene Verhaltensweisen hervorbringen. Ein hübsches Beispiel dafür ist die klassische Tastatur der Schreibmaschine, die QWERTY-Tastatur. Keine Logik und kein Orientierungs-Nutzen erklärt, warum die Tasten einer Schreibmaschine so angeordnet sind, wie wir sie überall vorfinden. Tatsächlich war die Tastatur (neben einigen sinnvollen Überlegungen) eine Verlegenheitslösung. Der US-amerikanische Buchhalter Christopher Latham Sholes, der die QWERTY 1868 erfand, ordnete die Tasten so an, dass besonders häufig aufeinanderfolgende Buchstaben möglichst nicht nebeneinander standen. Die Gefahr war, dass sich die Typenhebel der Schreibmaschine sonst zu oft verhakten. Zwar
hat sich dieses Problem schon seit der Einführung der elektrischen Schreibmaschine erledigt. Doch hunderte Millionen Menschen, die an die QWERTY (oder die QWERTZ) gewöhnt sind, wollten und sollten sich nicht umorientieren. Sie folgen weiterhin einem Pfad, der logisch und auch ergonomisch nicht sinnvoll ist, aber offensichtlich nicht verlassen werden kann.
    North untersuchte die enorme Bedeutung von Pfadabhängigkeiten in der Wirtschaft und erhielt dafür 1993 den Nobelpreis. Institutionen, so North, zeigen eine auffallende Ähnlichkeit mit Tastaturen und Schreibmaschinenbenutzern. Die vorgeschriebenen Wege und ihre Nutzer bilden eine »institutionelle Matrix«, die sich unausgesetzt selbst verstärkt. Nicht die tatsächlichen Probleme geben damit die Relevanz vor, sondern die Art ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung durch Institutionen.
    Nicht anders ist es in der Politik. Parteien greifen Themen nicht deshalb auf, weil sie relevant sind, sondern weil sie sich davon Vorteile für sich selbst versprechen. Dabei folgen sie abgeschauten Mustern. Als in den 1950er Jahren die ersten afrikanischen Staaten unabhängig wurden, setzten sie einen Erdrutsch in Gang. Ende der 1960er Jahre war fast jedes afrikanische Land dekolonialisiert. In den 1970er Jahre erlebten viele Staaten in Westeuropa genau parallel eine Welle der Liberalisierung von Frauen- und Minderheitenrechten. Als Ende der 1990er Jahre klar wurde, dass die gesetzliche Rentenversicherung für die jüngere Generation nicht ausreichen würde, warben die »konservativen« und »sozialistischen« Regierungen Westeuropas nahezu gleichzeitig für eine Mischkalkulation aus gesetzlich und privat nach dem »niederländischen Modell«. 3
    Fast alle gesellschaftlichen Umbauten erscheinen erst dann legitim, vernünftig und praktikabel, wenn ein anderer sie vormacht. Ungeschützt dagegen wagen sich die wenigsten aus der Deckung. Verwunderlich ist das nicht. Wer recht oder schlecht bewährte Pfade verlässt, muss immer mit starken Reaktionen rechnen, mit Ärger und Empörung, Widerstand und Blockaden,
Organisationsschwierigkeiten und Orientierungsverlust. Im Zweifelsfall verlässt sich das ängstliche Gemüt deshalb lieber auf das Altbewährte und fällt weiter Bäume wie auf der Osterinsel. Einmal eingeschliffene Mängel und Fehler bleiben erhalten wie die QWERTY-Tastatur. Und von der sozialen Phantasie an unseren Universitäten, den Alternativmodellen von Grundeinkommen und Bürgergeld oder zum ökologischen Umbau unserer Städte und Landwirtschaft kommt kaum etwas an.
    Aus Sicht von Spitzenpolitikern erscheint dieses weitreichende Desinteresse überaus verständlich. In der Welt ihrer Routinen und Standardprozeduren, der festgezurrten Netzwerke und vorausschauenden Rücksichtnahmen, der Verantwortlichkeitsdomänen und Zuständigkeitsscharmützel haben Visionen keinen Platz. Utopien von einem besseren Leben gewinnt man im Regelfall nicht in der Politik, sondern vorher oder außerhalb.
    Den institutionalisierten Beschränkungen in der Welt der Politik steht heute in Deutschland eine Bevölkerung gegenüber, die - allen Unkenrufen zum Trotz - die vermutlich gebildetste und via Internet bestinformierte in der Geschichte der Menschheit ist. Ihr Selbstbewusstsein ist höher als je zuvor. Noch nie in diesem Land waren Generationen so frei von Angst vor Autoritäten und so sehr darin trainiert, ihre Meinung zu äußern. Menschen in Deutschland werden heute auch zu allem gefragt und dürfen sich vieles aussuchen: vom Handy bis zu Bahntarifen - als Kunde lebt jeder Deutsche in der Illusion von Teilhabe oder Mitbestimmung. Im Internet darf er den gekauften Fotoapparat genauso bewerten wie den Einsatz in Afghanistan. Und im Chat kann er sich über eine Freundin aufregen wie über Angela Merkel.
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