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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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demokratisches System dagegen ist noch immer das gleiche wie zu Anfang der Bundesrepublik 1949. Vieles, was die Verfassungsväter festlegten, erscheint noch heute sinnvoll und richtig, anderes dagegen ist überholt. Man behandelt erwachsene Kinder auch dann nicht wie Kleinkinder, wenn man manches Verhalten und manche Meinung noch immer albern findet.
Nach einer Umfrage von »Omniquest« vom Juli 2010 befürworten 81,5 Prozent der Bundesbürger Volksentscheide auf Landesebene. Und knapp die Hälfte dieser Befürworter will dabei nicht nur über einfache Gesetze abstimmen, sondern auch über Verfassungsänderungen. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) befürworten Volksentscheide auch auf Bundesebene - etwa über die Wehrpflicht oder über Weichenstellungen in der Energiepolitik. 4
    Mit welchem Recht wird den Bürgern diese Teilhabe heute verwehrt? Ist es nicht Bequemlichkeit, Pfadroutine, Misanthropie und intellektueller Hochmut zu glauben, dass man »dem Volk« nicht trauen darf? Wer der sogenannten Politikverdrossenheit in unserem Land entgegentreten will, der kann nur eines tun: Er muss, mit Willy Brandt gesagt, »mehr Demokratie wagen«. In dieser Hinsicht sprechen Leggewie und Welzer inzwischen sogar von einer APO 2.0, einer neuen außerparlamentarischen Opposition: »Die APO 2.0 ist grundverschieden von den für Aufbrüche und Aufstände stilbildenden 68er- und 89er-Zeiten. Sie wird nicht von ausformulierten Gesellschaftsmodellen beseelt sein, die Glück für alle verheißen - derlei haben die Kommissare und Kader der totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts für alle Zeit erledigt. … Die APO 2.0 ist nicht nur in der Lage, Volksvertreter unter Rechtfertigungs- und Innovationsdruck zu setzen, sie kann mit kollektiven Lernerfahrungen ›von unten‹ auch jenes Identitätsgefühl entstehen lassen, das erst zu definieren ermöglicht, welche Art von Gesellschaft man in Zukunft sein möchte.« 5
    Wer persönliche und gesellschaftlich festgezurrte Egoismen überwinden will, der muss auch unser politisches System danach befragen, wo es die Spielräume des »Guten« verengt und diejenigen des »Schlechten« kultiviert. Doch die Barrieren gegen jede Transformation sind hoch. Keine einzige parlamentarische Initiative für mehr Bürgerentscheide fand bisher die laut Grundgesetz erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Und auch der amtierende Bundestagspräsident spricht sich auf seiner Homepage gegen Volkentscheide aus, weil er »die Einführung
plebiszitärer Elemente auf Bundesebene nicht für ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit« hält. Vielmehr seien »hier deutliche Zweifel angebracht: Obwohl in den letzten Jahren die direkt-demokratischen Elemente auf der Ebene der Kommune und Länder systematisch ausgebaut wurden, hat dies nicht zu einer stärkeren Beteiligung bei Kommunal- und Landtagswahlen geführt. Im Gegenteil: Im Vergleich mit den Bundestagswahlen, wo die Wahlbeteiligung seit mehreren Wahlen konstant um die achtzig Prozent schwankt, hat sie in den Kommunen und Ländern tendenziell stark abgenommen. In der Schweiz, wo es traditionell Volksentscheide auf nationaler Ebene gibt, liegt die Wahlbeteiligung an den Nationalratswahlen seit einem Vierteljahrhundert konstant unter fünfzig Prozent.« 6
    Die Argumentation ist ein schönes Beispiel für Pfadabhängigkeit. Um Volksentscheide auf Bundesebene zuzulassen, müssten sie mindestens ein »Allheilmittel« sein und nicht weniger. An welches andere politische Verfahren wird so ein gigantischer Maßstab angelegt? Die QWERTY-Tastatur darf nur dann verändert werden, wenn die neue Tastatur alle Probleme löst und rundherum perfekt ist. Der zweite Teil der Argumentation im Namen des Bundestagspräsidenten misst den Erfolg direkter Bürgerbeteiligungen rein quantitativ und nicht qualitativ. Der Einfall, die Abnahme der Wahlbeteiligung in den Bundesländern auf mehr direkte Demokratie zurückzuführen (!) und nicht etwa auf ein zunehmendes Desinteresse der Bürger an den Bundesländern, ist ebenfalls sehr bezeichnend. Und wenn sich in der Schweiz viele Bürger an Volksentscheiden beteiligen (die oft eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema voraussetzen), warum ist es dann allzu schmerzlich, dass die Nationalratswahlen den Schweizern nicht mehr ganz so wichtig sind? Auch hier erstaunt die aus deutscher Sicht arg verengte Wertung.
    In diesem Zusammenhang dürfte es sich lohnen, auch unsere Konkurrenzdemokratie auf den Prüfstand zu stellen.
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