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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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unmöglich macht, den bestirnten Himmel zu sehen. Nicht Demokratie, sondern »Postdemokratie« nennt der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch (*1944) von der University of Warwick dieses Theater. 5
    Was fehlt, ist das Zusammenspiel, die Erfrischung, der Austausch, die Erdung, die Langfristigkeit und der soziale Sinn für die Wirklichkeit. Statt mit der Bevölkerung im Austausch zu bleiben, reagieren Spitzenpolitiker auf eine Medien-Fiktion dessen, was »das Volk« denkt. Auf eine vermeintliche Empörung in den Boulevardmedien oder auf »Trends«, von denen niemand genau sagen kann, ob nicht diejenigen sie schaffen, die sie als Volkswille behaupten.
    Die Einflüsterungen, denen Spitzenpolitiker normalerweise den größten Sachverstand zutrauen und das höchste Vertrauen entgegenbringen, sind die der Lobbyisten. Im Regelfall stammen sie aus der gleichen sozialen Schicht wie der Politiker selbst, essen
in den gleichen Restaurants und gehen zu den gleichen Veranstaltungen. Im Gegensatz zum abstrakten Volk sind Lobbyisten richtige Menschen mit klaren Zielen und Vorstellungen. Und wer ihnen nützt, dem nützen auch sie - ein lupenreiner Fall von Robert Trivers’ »reziprokem Altruismus«. Die Spitzenvertreter der Verbände und der großen Vereine, der Gewerkschaften und der Arbeitgeber und auch die Chefredakteure der Zeitungen und Sender - gemeinsam bilden sie die soziale Umwelt eines Politikers; sie sind die Horde, in der er sich orientieren muss, seinen Platz erstreiten und behaupten. Neben derjenigen in seiner Partei kommt es auf seine soziale Stellung in dieser Welt an, nicht in irgendeiner anderen.
    Anschaulicher, aber nicht grundsätzlich anders, lässt sich dies am Beispiel der Politik in den USA betrachten. Warum werden so viele soziale Probleme der Supermacht nicht angegangen und gelöst? Warum tut sich das reichste Land der Welt so schwer damit, seinen Bürgern eine menschenwürdige Sozial- und Krankenversicherung zu garantieren? Warum ist das Umweltbewusstsein so erschreckend schlecht entwickelt? Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz findet dazu klare Worte: »Viele der diskutierten Probleme sind seit langem bekannt, und dennoch hat es bei ihrer Bewältigung kaum Fortschritte gegeben. Weshalb kann ein Land mit so vielen begabten Menschen … diese Probleme hier auf der Erde nicht besser lösen?« Das Hauptproblem, so Stiglitz, sind die »Interessengruppen, die maßgeblichen Einfluss auf die amerikanische Wirtschafts- und Sozialpolitik nehmen … die Finanz-, die Pharma-, die Mineralöl- und die Bergbauindustrie. Ihr politischer Einfluss macht eine rationale Politikgestaltung praktisch unmöglich. Bei vielen Schlüsselfragen haben Lobbyisten sich in einer Weise verhalten, die wenig mehr war als unverblümte Geldgier.« 6
    Die oft viel zu enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft ist eines der größten Probleme gegenwärtiger Politik in den westlichen Demokratien. Und wie bei Managergehältern, so sind
auch hier die Schamgrenzen fast völlig verschwunden. Finanzpolitik in den USA wurde und wird nicht von Politikern betrieben, sondern von den Bankern selbst. »Die amerikanische Hochfinanz, die mehr Freiheiten genoss denn je«, schreibt de Weck, »bemächtigte sich des Staats: kraft ihrer Geltung, ihres Reichtums und dank Wahlkampfspenden. Durch den guten alten ›Korridor Wall-Street-Washington‹ entsandte der Geldadel seine Statthalter in die amerikanische Hauptstadt. Bill Clintons Finanzminister Robert Rubin, George W. Bushs Finanzminister Henry Paulson, sein Stabschef Joshua B. Bolten und der Verwalter des 700-Milliarden-Rettungsfonds Neel Kashkari kamen alle von der Investmentbank Goldman Sachs.« 7
    Doch nicht nur die Wall Street oder das Italien des Silvio Berlusconi sind Schauplätze einer solchen »Postdemokratie«. Vorgänge wie diese ereignen sich auch ganz banal in Deutschland. Ein schlagendes Beispiel für Politik, Filz und Lobbyismus ist die Ministererlaubnis des damaligen Wirtschaftsministers Werner Müller im Jahr 2002. Als ehemaliger Energiemanager der VEBA AG übernahm Müller 1998 das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. In dieser Zeit wollte die E.ON AG, die Nachfolgegesellschaft von Müllers ehemaligem Arbeitgeber VEBA, die Ruhrgas AG übernehmen. Aufgrund der enormen Marktstellung des beabsichtigten neuen Energiekonzerns schritt das Bundeskartellamt ein und verbot die Übernahme. Müller jedoch setzte sich über das Verbot des Kartellamtes hinweg und
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