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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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Volk« oder »die Menschen« ist, sondern im Zweifelsfall nur ein Fernsehzuschauer, der sich nach jeder Talkshow vornimmt, dass er sich das nun wirklich nicht mehr antut. Und zur Wahl geht er oft auch nicht mehr, weil er sich nicht repräsentiert fühlt. Keine Partei ist so stark in Deutschland wie die der Nichtwähler. Sie ist die neue Volkspartei. Politiker können damit leben - unsere Demokratie kann es nicht. Doch wenn die Regierung und die Regierenden den Willen des Volkes offensichtlich nicht mehr abbilden, fragt sich, woher sie ihre Legitimität beziehen. Wie niedrig muss die Wahlbeteiligung werden, bis die Regenten sich nicht mehr als Repräsentanten fühlen - vierzig Prozent, dreißig oder zwanzig?
    Natürlich darf man sich nichts vormachen. Nicht jeder Nichtwähler ist ein desillusionierter Idealist. Viele, die unserer Demokratie die Zustimmung durchs Wahlkreuz verweigern, suchen schon lange nicht mehr nach Weltanschauungen. Was sie sich wünschen, ist maximal eine verlässliche Rating-Agentur für die Sicherheit von Lebensperspektiven. Und Parteien spielen dabei heute noch eine untergeordnete Rolle, so sehr sie sich für diese Rolle auch anbieten und anbiedern. Doch wen der Staat dazu ermuntert, ihm seine Alterssicherung nicht mehr zuzutrauen, wer
seine Leiden keiner »gesetzlichen« Krankenkasse mehr überlässt und wer seine Kinder, wenn er kann, auf Privatschulen und Elite-Unis schickt, der traut dem Staat auch sonst nicht mehr über den Weg. Nur die sozial Schwachen vertrauen auf den Staat - weil sie müssen.
    Die Privatisierung von Lebenssicherheiten wird noch immer unterschätzt. Ihr Resultat ist der maulende Wähler, politikverdrossen und unzufrieden, angestachelt von der bösen Illusion, den Staat kaum noch zu brauchen. Bei Umfragen gibt er zu Protokoll, dass er nicht mehr an die Demokratie glaubt, an den Parteien lässt er kein gutes Haar, und den Politikern wirft er vor, was längst auch für ihn selbst gilt: dass sie nur noch an sich denken. Statt staatsbürgerlicher Ethik verpflichtet zu sein, begreift er sich mehr und mehr als moralische Briefkastenfirma mit einem festen Wohnsitz im Irgendwo.
    Sind solche zunehmend amoralisierten Bürger regierbar? Gibt es, so fragt de Weck, eine Politik für Menschen, die »die Erderwärmung ebenso fürchten wie den Anstieg der Benzinpreise«? 4 Die die Abwrackprämie volkswirtschaftlich für falsch halten, sie aber trotzdem kassieren? Für Wähler, die von der Politik eine Ehrlichkeit fordern, die sie im Zweifelsfall selbst nicht haben? Für Kunden, die tagtäglich hören, dass sie ihren Vorteil nutzen sollen, und nach Vorzugsprämien gieren? Man kann natürlich auch einmal umgekehrt fragen, wie viel Spaß es unseren Politikern eigentlich macht, die Gunst von Premiumkunden zu gewinnen, denen man nicht auch noch versprechen kann, »Premiumwähler« zu sein? »Mit der Wahl dieser Partei erhalten Sie einen Vorzugstarif bei der Steuer, eine Pay-back-Card für Ihre Stimme und ein First-Class-Handy von Ihrem Exklusiv-Abgeordneten …«
    Was früher Weltanschauung war, ist heute weitgehend ein Kosten-Nutzen-Kalkül geworden und aus moralischen und sozialen Wahl-Heimaten eine Sache von Stimmungen und Trends. Befeuert wird dieser Prozess durch Nachrichtensendungen und Polit-Magazine, die Politik längst als Yellow-Press-Thema behandeln: wer
mit wem, warum und warum nicht - ein nur mäßig interessantes Unterhaltungsprogramm mit wenig attraktiven Darstellern.
    Doch während das Publikum diesen Daily Soaps kaum noch einen Reiz abgewinnt, halten die politischen Seriendarsteller ihre mediale Rolle für die Realität und ihr Bild für sich selbst. Politiker interessieren sich in erster Linie für andere Politiker - für Konkurrenten und Verbündete, Parteimitglieder und andere Feinde, für Zweckbündnisse und Proporzgemeinschaften.
    Ein solcher Politiker beschäftigt sich nicht mit »dem Volk«. Er braucht sich auch nicht damit zu beschäftigen, allenfalls mit dessen Kondensat in den Meinungsumfragen der Demoskopen. Im Tagesgeschäft nimmt er die Bevölkerung nicht wahr, weil nichts und niemand ihn dazu verpflichtet, außer vielleicht bei einer Wahlkampftour. Das Demokratie-Theater ließe sich letztlich auch ohne Zuschauer spielen. Parteien, Politiker, PR-Berater und Meinungsforscher - alle zusammen und gegeneinander stellen sie ihre Scheinwerfer auf und verschmutzen das Licht moralischer Erkenntnis. Wie Metropolen bei Nacht schaffen sie ihren eigenen Lichtkegel, der es
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