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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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Regenwald in Brasilien und in Indonesien fällt Ihnen ein, von dem jeden Tag mehrere Quadratkilometer in Flammen aufgehen. Sie denken an die vielen zum Teil noch unbekannten Tierarten, die ausgerottet werden, oder an die enorme Bedeutung des Regenwaldes für das Klima. Auch die Meere bedürfen dringend unseres Schutzes. Und wegen des Klimas kann man das Geld natürlich auch den Chinesen schenken,
damit sie ihre Kraftwerke mit moderner Filtertechnik ausstatten. Eine andere Idee wäre, Ihr Geld für Wirtschaftshilfe auszugeben, um aktuelle oder drohende Bürgerkriege zu vermeiden, etwa in Ruanda oder in Somalia.
    Alle diese Ideen sind ohne Zweifel richtig. Es gibt so viel Gutes zu tun. Und zehn Milliarden Euro können dabei ohne Frage helfen. Also, wofür entscheiden Sie sich? Je länger Sie darüber nachdenken, umso klarer dürfte Ihnen werden, dass eine solche Entscheidung nicht leicht ist. Der Bereich des Guten ist schwer abzuschätzen und zu vermessen. Und ein moralischer Zollstock ist niemandem zur Hand.
    Man könnte dem Spiel zudem auch noch eine ganz pessimistische Note geben, nämlich indem man die möglichen Folgen Ihrer Investition durchdenkt. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie geben Ihr Geld einigen brasilianischen Indianern, damit diese nicht länger brandroden und keine seltenen Tiere jagen oder verkaufen. Was passiert? Vielleicht ziehen sich die Indianer untereinander in kürzester Zeit über den Tisch. Am Ende gibt es ein paar Superreiche. Und der Rest fackelt wieder den Regenwald ab. Die Superreichen bauen sich Haziendas und vernichten ebenfalls den Wald. Vielleicht haben Sie aber auch Glück, und das mit den Indianern klappt ganz vorbildlich. Aber wie lange? Immerhin gibt es ja auch Nachbarn, die Sie nicht begünstigen konnten. Eifersucht und Neid breiten sich aus. Unruhen kommen auf, am Ende vielleicht sogar ein Bürgerkrieg. In Ruanda oder in Somalia wird es Ihnen mit den Folgen Ihres Geldes mit Sicherheit noch schlechter gehen. Also alles nach China? Nun, die Chinesen montieren mit Ihrem Geld die modernste Filtertechnik ein. Und dann? Als aufstrebende Industrienation bauen sie noch mehr Kraftwerke, die Sie nicht alle ausrüsten können. Und in Deutschland meckern die Stromkonzerne, wenn über die neuen, überall geplanten kontinentübergreifenden Stromnetze billiger Strom aus China auf unseren Markt fließt …
    Man muss dieses Szenario nicht in allen Einzelheiten durchdenken.
Und man muss auch nicht zwingend zu dem bösen Schluss kommen, dass jede gute Großtat am Ende doch nur ins Chaos führt. Aber zumindest eine Frage bleibt: Wenn es so viele unterschiedliche gute Ziele gibt und damit so verschiedene Wege, Gutes zu tun, wo liegt dann die Instanz, die mir sagt, was gut und was besser ist? Auch Platon wusste, dass dies ein empfindlicher Punkt in seiner Theorie des Guten ist. Und er hat es sich mit dieser Frage auch nicht ganz einfach gemacht. Im Hippias Maior, einer seiner späten Schriften, diskutiert auch er, dass das Gute gemeinhin eine ziemlich relative Sache ist. 1 Was für mich gut und erstrebenswert ist, muss nicht für jeden anderen gut und erstrebenswert sein. Der Held Achilles zum Beispiel, ein geborener Abenteurer und Kämpfer, wäre ohne Zweifel ein denkbar ungeeigneter Familienvater. Für ihn ist gut, ein Krieger zu sein, und ein Familienvater zu sein, schlecht. Obwohl ein guter Familienvater zu sein grundsätzlich nichts Schlechteres ist als ein Krieger.
    Platon sieht also einen Widerspruch. Nämlich den zwischen einer persönlichen Neigung und dem, was allgemein gut ist. Wer etwas Gutes will, der tut dies, weil er ein erfülltes Leben führen will. Erfüllung aber kann ich sowohl in dem finden, was meinen Neigungen vorteilhaft (agathon) zu sein scheint, als auch in dem, was allgemein und grundsätzlich sittlich gut ist (kalon).
    Dieser Spagat bleibt Platons ungelöste Aufgabe. Wie passen das Gute und mein Gutes zusammen? Aber gibt es tatsächlich nur diesen einen Konflikt? Am Beispiel unserer Zehn-Milliarden-Euro-Spende haben wir gesehen, dass die Sache selbst dann völlig unübersichtlich werden kann, wenn ich ausschließlich das Gute und gar nicht mein Gutes im Auge habe. Wer hilft mir, das Gute vom etwas weniger Guten und vom Besseren zu unterscheiden? Und brauche ich diese Unterscheidungsmöglichkeit nicht ganz zwingend, wenn ich ein optimales Leben führen will?
    Diese Frage hat auch mich in meinem Leben stark beschäftigt. Als Abiturient schloss ich mich im Jahr 1984 der
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