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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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Solinger Arbeitsgruppe von amnesty international an, um Gutes zu tun. Das
Ziel von amnesty, sich für politische Gefangene in aller Welt einzusetzen, überzeugte mich sofort. Zu meiner Enttäuschung bekam ich den »Fall« eines Gefangenen in Jugoslawien zugeteilt; ein bosnischer Maschinenbauingenieur, der auf einem Flugblatt dafür geworben hatte, die Verhältnisse in Khomeinis Iran auf Jugoslawien zu übertragen. Das Ergebnis: elf Jahre Haft. Besonders motiviert war ich zunächst nicht. Weder sah ich in Jugoslawien zu diesem Zeitpunkt einen Schurkenstaat, noch identifizierte ich mich auch nur ansatzweise mit dem Islamismus. Um wie vieles lieber hätte ich einem aufrechten sozialistischen Chilenen in Pinochets Folterkammer geholfen! Aber ich lernte meine Lektion: Das Eintreten gegen Unrecht folgt keiner Hitparade und auch keinen weltanschaulichen Präferenzen. Nach der Logik und Ethik von amnesty international ist jede starke Menschenrechtsverletzung ein Fall zum Eingreifen, egal, wo und warum.
    Und gilt ein ähnliches Prinzip nicht auch für das Leben? Mit einer Moral, die stets allein nach einer Hierarchie des Üblen und des Guten gewichtet, kommt man wahrscheinlich nicht sehr weit. Abgesehen davon, dass vielleicht nicht jede moralische Abwägung vor einem inneren internationalen Gerichtshof vollzogen werden muss. Ob ich einem in Not geratenen Bekannten Geld leihe oder nicht, ob ich meine Kinder taufen lasse oder ob ich einer wohltätigen Organisation hundert Euro mehr oder weniger spende - all dies sind Fragen, die nicht unbedingt vor einem höchsten Tribunal der Moral entschieden werden müssen.
    Mit der Idee des Guten als höchster Instanz, um sich zu orientieren, ist es im Alltag so eine Sache. Nach Platon nämlich gibt es eine strenge Hierarchie der Tugenden. Eine Skala, auf der sich immer genau ablesen lässt, was eine bestimmte Haltung oder Eigenschaft moralisch wert ist. Und weil das so sein soll, gibt es auch keine Konkurrenz zwischen den Tugenden. Gerechtigkeit und Wahrheit, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, Tapferkeit und Familiensinn - all dies steht, nach Platon, von Natur aus nicht miteinander in Konflikt. Der weise Mensch, der die Idee des Guten
in sich aufgenommen hat und danach lebt, weiß das alles so gut zu sortieren, dass niemals ein Problem entsteht. Allenfalls gibt es Scheinkonflikte.
    Aus heutiger Sicht ist dies eine ziemlich merkwürdige Idee. Und eigentlich war sie es auch schon zu Platons Zeit. Im Dionysostheater von Athen feierte das Publikum die Schauspiele des Aischylos, des Euripides und des Sophokles. Die beiden Letztgenannten lebten noch als hoch geehrte Greise, als Platon ein junger Mann war. Und wovon handelten ihre Tragödien? Von nichts anderem als von den Konflikten der Tugenden und ihrer gelegentlichen Unvereinbarkeit. Denn genau dies ist der »tragische« Konflikt: dass man eine Entscheidung zwischen zwei Gütern, zwei Pflichten, zwei Gefühlen oder zwei Zielen treffen muss, die augenscheinlich gleich wichtig, aber absolut unvereinbar sind. Bei Sophokles ist dies das Leitmotiv aller seiner Stücke. Die Gesetze der Menschen und die Gebote der Götter geraten miteinander in Konflikt. Und ebenso ist es mit den rivalisierenden Treuepflichten der Menschen gegenüber unvereinbaren Gütern.
    In der Welt der Tragödie sind die Tugenden nicht mehr sauber geordnet. Die alten überlieferten Hierarchien überzeugen nicht mehr, und neue sind nicht zur Hand. Was in einer bestimmten Situation gut oder falsch ist, ist sehr schwer zu sagen. Und auch das, was höher gewichtet werden muss. Treue, Ehre, Freundschaft, Familie, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Gesetzesfurcht - die Begriffe purzeln nur so durcheinander und stiften überall Tote, Verwirrung und Trauer.
    Für Platon ist die Tragödie ein Gräuel, eine Gefahr, ein Ort der Unmoral. Zu schockierend müssen seine Theatererlebnisse gewesen sein, als dass er der Kunst des Sophokles oder des Euripides etwas abgewinnen kann. Wer die Verwirrung der Tugenden in einem solchen Maß vorführt, so meint Platon, der vergrößert das Chaos unter den Menschen nur noch zusätzlich. Von allen Künsten sei das Drama deshalb die moralisch fragwürdigste. Wie bestürzend zu sehen, dass sich Menschen an der Darbietung von
charakterlich fragwürdigen oder schlechten Personen ergötzten. Gar nicht zu reden von den Schauspielern, die möglicherweise auch noch Spaß an solchen Darbietungen hätten. Kein Wunder, dass die Regierung in Platons idealem Staat das Programm
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