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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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des Theaters streng reglementieren soll und vieles verbieten …
    Platons Idee des Guten mit ihrem moralisch geordneten Kosmos ist ein Abwehrversuch gegen die Welt, die das Theater vorführt. Aber ist es nicht zugleich ein Abwehrversuch gegen die Realität?
    Nehmen wir zum Beispiel die Sparsamkeit. Sie ist eine Tugend insofern, als das Verprassen und Verschleudern von Geld weithin als schlecht gilt. Aber kann man nicht auch so sparsam sein, dass man knauserig, geizig, vielleicht sogar grausam wird? Das Gleiche gilt im umgekehrten Sinn von der Freigiebigkeit. Auch Tapferkeit mag eine Tugend sein, aber ein tapferer SS-Mann, der sich in Erfüllung seiner Pflicht in ein Partisanengebiet begibt und dort Kinder aufhängt, nötigt uns keinen Respekt, sondern Widerwillen und Verachtung ab. Wahrheitsliebe ist eine gute Eigenschaft. Aber soll man tatsächlich immer und überall die Wahrheit sagen? Soll man seinem Chef ungeschminkt darlegen, was man von ihm hält? Wer so handelt, handelt zumeist völlig unnötig tollkühn. Und was sollen wir von einem Menschen halten, der jede seiner Entscheidungen immer an dem Grundsatz überprüft, ob sie gerecht ist?
    Eine jede Tugend wird auffallend schnell zum Problem, wenn man sie radikal ernst nimmt. Und noch problematischer ist, dass sich die Tugenden im Leben häufig auch noch gegenseitig auf den Füßen stehen. Ein Mensch, der unter Folter gezwungen werden soll, seine Mitstreiter zu verraten, wem ist er verpflichtet? Der Wahrheit - wohl kaum! Der Pflicht, seine Freunde zu schützen - schon eher. Seinem Selbsterhaltungstrieb? Auf jeden Fall auch.
    Nicht nur in Extremsituationen, auch im Alltag geraten unsere Tugenden immer wieder leicht durcheinander. Und nicht jede gute Absicht passt zu einer anderen. Der liberale britischjüdischrussische
Philosoph Sir Isaiah Berlin (1909-1997), der sich mit dieser Frage beschäftigte wie mit keiner anderen, meinte dazu: »In der Welt, auf die wir in der gewöhnlichen Erfahrung stoßen, haben wir es mit Entscheidungen zwischen gleich endgültigen Zielen und gleich absoluten Ansprüchen zu tun, von denen sich einige nur verwirklichen lassen, wenn man andere dafür opfert.« 2
    Was lässt sich daraus lernen? Platon hatte die Idee des Guten über alles andere gesetzt. Aber das Gute ist eine sehr neblige Sache, wenn es konkret wird. Wichtige Werte und Ideale geraten im alltäglichen Leben manchmal in einen kaum entscheidbaren Konflikt. Deshalb kann man sicher nicht davon reden, dass sie »von Natur aus« in einem ordentlichen Verhältnis zueinander stehen.
    Auch Platon hatte gesehen, dass es viele denkbare Lebensformen gibt, die auf ihre je unterschiedliche Weise Anteil am Guten haben. Aber was er nicht wahrhaben wollte, war, dass sich diese Entscheidungen mitunter nicht einfach ergänzen, sondern widersprechen. Jede Entscheidung für etwas ist auch immer zugleich eine Entscheidung gegen etwas. Und jede Entscheidung für einen Wert geschieht häufig auf Kosten anderer Werte. Im Fall unseres Spiels mit den zehn Milliarden Euro können wir zwar bestenfalls etwas für den Erhalt des Regenwaldes in Brasilien tun. Zugleich aber nehmen wir damit in Kauf, dass Tausende Kinder in Äthiopien sterben müssen, weil wir ihnen nicht geholfen haben. Der australische Philosoph Peter Singer (*1946), heute Professor an der US-amerikanischen Universität Princeton in New Jersey, diskutierte in den 1970er Jahren diesen Umkehrschluss: Wer sich dazu entscheidet, an Weihnachten kein Geld in den Klingelbeutel zu tun oder sonst wie für vom Hungertod bedrohte Menschen zu spenden, könnte der nicht genauso gut nach Äthiopien reisen, um dort eigenhändig ein paar Bauern zu erschießen? Zumindest das Resultat sei in beiden Fällen das gleiche. 3
    Wäre dies richtig, müssten wir nicht nur alle Folgen unserer
Handlungen, sondern immer auch alle denkbaren Folgen unserer Nicht-Handlungen berücksichtigen. Doch wer das in vollem Umfang tut, traut sich am Ende wahrscheinlich gar nichts mehr zu entscheiden. Er gerät in völlig unauflösbare Dilemmata, wie die Helden des Euripides und des Sophokles. Oder er wird verrückt.
    Das Gute, so darf man folgern, gibt es nicht. Jedenfalls nicht in Form einer übergeordneten kosmischen Ordnung. Die Idee des Guten ist keine besonders gute Idee. Man sollte das Gute eher ein »Ideal« nennen, etwas, das es zwar nicht gibt, aber dem man als eine Art innerem Leitstern folgt. Manche Freunde der platonischen Philosophie haben die Idee des Guten auch
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