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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens
Autoren: Katharina Ley
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Form angenommen werden. Dies anstreben und erreichen zu wollen, hat mit Vertrauen und Liebe zu sich selbstzu tun. Und damit, frei zu sein von Verstrickungen und Abhängigkeiten. Immer wieder achtsam und liebevoll beginnen und beenden können und damit die Bälle auffangen, die das Leben zuspielt, und die Schritte tun, die anstehen.
Die eigene Wirklichkeit ständigen Wandels anerkennen
    Das Ende ist so unermesslich, es hat seine eigene Poesie. Es erfordert praktisch keine Rhetorik. Man muss es einfach nur benennen.
    Philip Roth

    »Wenn wir uns mithilfe all unserer Gewohnheiten und Strategien von unserer Erfahrung, vom gegenwärtigen Moment entfernen, dann führt das am Ende zu Unruhe, Ungenügen und Unglücklichsein.« 62 Der gegenwärtige Moment ist ein Moment, der vergeht. Ihm mögen weitere ähnliche Momente folgen, die in der Abfolge ein Gefühl von Beständigkeit und Sicherheit zu vermitteln scheinen. Es gehört zur menschlichen Wirklichkeit, dass Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und andere Lebenssituationen beendet werden. Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterben öffnen allesamt den Blick auf ein Beenden. Zur Anerkennung der eigenen Wirklichkeit des Wandels gehört es, zu sehen, was ist: immer wieder beenden müssen, ob es einem passt oder nicht, und gemäß den Möglichkeiten, die man hat und im besten Fall ständig weiterentwickelt.
    Entscheidend für unser Lebensgefühl ist, in welcher Weise diese Wirklichkeit wahrgenommen wird: als Einschränkung, als Leiden, als Angst und Bitterkeit; oder als Ressource zu Selbsterkenntnis und Welterfahrung, als intensiver Geschmack des Lebens, als Glück und in Dankbarkeit. Es kann eine Krankheit sein, eine Lebenskrise, eine schwierige Beziehung, eine Trennung, der Verlust der Arbeit, ein Todesfall –annehmen, was ist. Sich ins Beenden einstimmen. Ins Beenden einsteigen, ja, es steht an, ja, ich bin einverstanden. Das fällt den meisten Menschen schwer. Wir haben unsere Hoffnungen und Erwartungen. Wenn sie nicht erfüllt werden, sind wir enttäuscht, schimpfen und hadern und fühlen uns benachteiligt. Vor allem dann, wenn wir uns mit anderen, vermeintlich Begünstigten vergleichen. Vergleiche machen mit Sicherheit unglücklich. Oder im anderen Fall überheblich und schadenfroh.
    Annehmen, was ist. Es gibt keine Alternative zur Trauer über Verlorenes, nie Erreichtes und Missglücktes. Es gibt nur das Einverständnis mit dem Jetzt. Das lässt sich nicht überspringen. Trauer ist das schmerzliche Innewerden von Verlusten kürzeren, längeren oder endgültigen Ausmaßes. Der Kreislauf des Lebens mit Werden und Vergehen – sei es ein Tag, eine Beziehung oder ein Leben – ist immer mit Schmerz, Wehmut, Abschied und Trauer verbunden. Selbst Freudentränen folgen aus vorangegangenen Schmerzen.
    Oft kann man die Wirklichkeit aber auch nicht annehmen, weil Ungerechtigkeiten passieren, weil Menschen benachteiligt, unterdrückt und ausgebeutet werden. Weil politischer Protest notwendig ist. Weil man sich auflehnen muss gegen die Ausgrenzung von Menschen, die sich selbst nicht wehren können. Das ist notwendig und legitim. Es ist der Kampf für Menschenrechte und Menschenwürde. Er muss geführt werden.
    Wenn ein Mensch am ertrinken ist, soll er sich wehren und um sein Leben kämpfen. Wenn ein Mensch ungerecht behandelt wird, soll er sich wehren. Es braucht keinen inneren Krieg, um sich für sein Leben und das anderer einzusetzen. Es kann nur in Frieden, in Mitgefühl und in Liebe geschehen. Wut und Hass schlagen wie ein Bumerang auf einen selbst zurück. Erst in der Überwindung der eigenen negativen Gefühle wird ein Mensch fähig, die Wirklichkeit anzuerkennen.
    Es gibt viele Menschen, für die ein Beenden die Angst bedeutet, etwas zu verlieren, sich selbst zu verlieren – dieAngst, zu trauern und damit den Verlust anzuerkennen. Es ist eine Angst, überwältigt zu werden, zusammenzubrechen, sich zu verlieren, alles zu verlieren. Sie weigern sich, einen Verlust anzunehmen. Oder sie halten einen Menschen fest, der sterben möchte. Ein kleines, sehr krankes Mädchen hat einmal seinen Arzt gefragt, ob es sterben dürfe oder am Leben bleiben müsse, damit die Mama nicht traurig sei. Und eine andere Mutter hat viel später, nach dem Tod der Tochter, geschrieben, dass ihr das Schwerste passiert sei, das geschehen könne. Jede Faser ihres Seins habe sich dagegen gesträubt, das Unausweichliche anzunehmen. Aber sie habe es annehmen müssen. Was nun bleibe, sei die
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