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Die Kreuzfahrerin

Die Kreuzfahrerin

Titel: Die Kreuzfahrerin
Autoren: Stefan Nowicki
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fast jeden Satz der Alten so gut wie wörtlich behalten hatte. Sie änderte das Spiel und forderte ihre Schülerin nun auf, ihr etwas gegen das eine oder andere Leiden zu bringen. Ursula versuchte, jede gestellte Aufgabe möglichst rasch zu erfüllen, und wollte immer noch mehr. Zwischendrin lief sie den Kleinen nach, erledigte flink eine Arbeit und kehrte wissbegieriger denn zuvor zu Ester zurück.
    Dann sprang sie wieder zwischen den Bäumen und Büschen hin und her, die Augen suchend auf all die Pflanzen um sich herum gerichtet. Doch sie lernte nicht nur all das, was Ester ihr erzählte. Unbewusst nahmen ihre nackten Füße auch den Untergrund wahr, über den sie lief, waren es trockene Nadeln, raschelnde Blätter oder feuchtes Gras. Ebenso prägten sich ihr die Umgebungen der Pflanzen ein, welche Bäume in der Nähe standen, welches Kraut in direkter Nachbarschaft wuchs, ob die Sonne eine Pflanze beschien oder ob sie verborgen im Halbdunkel des Schattens gedieh. Ester beobachtete das alles mit wachsender Freude. Oft huschte ihr ein Lächeln über das faltige Gesicht, wenn sie dem rotblonden, im Laufen wehenden Haarschopf nachsah, auf dem das Sonnenlicht helle Reflexe zeichnete. Der Umgang mit Ursula tat ihr gut. Längst war sie nicht mehr die mürrische Alte. Sie genoss es, wenn sie sich mit dem Mädchen gemeinsam über eine Blüte beugte, beide prüfend und genussvoll schnuppernd. Wenn Ursula zu ihr zurückgeeilt kam, stolz ihren Fund präsentierte oder die Blätter eines Krautes zwischen ihren Handflächen zerrieb und ihr die leicht geöffneten Hände unter die Nase hielt, damit sie daran riechen konnte.
    Staunend sah sie die Geduld des Mädchens im Umgang mit den Bauernkindern. Kein Stöhnen oder Murren entfuhr ihr, wenn die Kleinen sie von der Pflanzenkunde abhielten. Nie schien dem Mädchen eine Arbeit zuviel oder zu einer unpassenden Zeit, willig und duldsam fügte sie sich und gab sich offensichtlich allergrößte Mühe, allen gerecht zu werden, um ja nicht die Zeit mit ihr zu verlieren. Unterm Scheunendach hingen große Sträuße gesammelter Kräuter zum Trocknen, mehr als je zuvor. Beeren und Früchte sammelte Ursula mit den Kleinen, und Matthes sorgte dafür, dass Ester mit ihr immer öfters auch allein ohne die Last der beiden jüngsten Hofbewohner losziehen konnte.
    So ging der Sommer schneller dahin, als sich die beiden ungleichen Freundinnen gewünscht hätten. Als kühlere Nächte und flammendes Laub den nahenden Winter ankündigten, konnte Ester ihrer Schülerin schon zusätzlich einiges vom Pilzesammeln vermitteln. Stundenlang streiften sie über Nadeln und Moosteppiche und durch feuchtes braunes Laub. Ursula verschwand immer wieder im Unterholz, suchte Plätze auf, an die Ester nicht mehr gelangen konnte. Doch nie war sie lange weg, da sie alles, was sie fand, der alten Frau sofort berichten oder zeigen wollte. Über die Monate hinweg hatte Ursula so starkes Vertrauen in die Großmutter gefasst, dass sie auch ihre innersten Regungen und Gedanken vor ihr nicht verbarg. „Schau, Ester“, rief sie voller Freude, „der Baum dort sieht aus, als würde er brennen. Ist das nicht wunderschön?“ Und wirklich, das im leichten Wind zitternde Laub in seiner goldenen, rotbraunen Pracht flammte im Sonnenlicht. Diese Freuden teilten beide ganz allein, denn auf dem Hof war kein Platz für dergleichen.
    „Schau Mütterchen, dieser Pilz sieht ganz so aus wie das Teil des Hundes, wenn er die Hündin bespringt.“ Es gab nichts, was Ursula Ester gegenüber nicht äußerte. Auch die Veränderungen an ihrem Körper, die Blutungen und die Haare in den Achselhöhlen waren Inhalte ihrer vertraulichen Gespräche. Vorsichtig weihte Ester ihren Schützling in die Geheimnisse von Leben und Geburt, von Mann und Frau und auch von Gott und der Welt ein. Ursula nahm auch diese ernsteren Dinge ohne Argwohn auf und stellte nur kurze, unbedingt nötige Fragen. Längst hatte sie begriffen, dass neben ihr eine unbegreiflich große Menge an Wissen zwischen den Bäumen spazierte, und sie zweifelte keines der Worte Esters an.
    Diese beobachtete mit Freude und Stolz, wie sich das Mädchen entwickelte. Die viele Bewegung, das ständige Hin- und Herlaufen hatten ihm sichtlich gutgetan. Ursulas Beine waren kräftiger geworden, ihre Haut war gebräunt, und ihr ganzes Erscheinungsbild wirkte sehr viel gesünder als zu der Zeit, da sie auf den Hof gekommen war. Ester wusste, dass all die Erd-, Blau- und Himbeeren, die das Mädchen im
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