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Die Kreuzfahrerin

Die Kreuzfahrerin

Titel: Die Kreuzfahrerin
Autoren: Stefan Nowicki
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weiß es.“ Sie holte tief Luft und seufzte. Die entstehende Pause nutzte Ursula, begierig mehr zu erfahren über das alte Wissen, und von einem Anflug Mitleid angespornt. „Lass mich deine Tochter sein!“, entfuhr es ihr spontan, sie kam sich zugleich aber sehr vorlaut vor und fügte kleinlaut hinzu: „Ich würde gerne all die Pflanzen kennen.“
    Ester lächelte schweigend vor sich hin. Sie hatte schon bald, nachdem das Mädchen auf den Hof gekommen war, gespürt, unter diesem Blondschopf wohnt ein heller Geist. Nun konnte sie die Wissbegierde neben sich geradezu fühlen und wog die Idee des Mädchens in sich ab. Sicher, es wäre gut, wenn sie ihr Wissen noch weitergeben könnte, aber was würde ihr Sohn davon halten? Ihr Umgang mit Kräutern und Wurzeln war ihm verdächtig, und nicht selten hatte er gewarnt, sie werde den Hof mit solcher Hexenkunst noch in Verruf bringen. Doch den Sud, der seinen Husten im Winter gelindert hatte, und die Umschläge auf das verstauchte Bein hatte er dankend angenommen. Ach, was sollte er schon sagen? Wenn das Mädchen seine sonstigen Arbeiten nicht vernachlässigte, gäbe es nichts einzuwenden.
    Schließlich drehte sie ihren Kopf und schaute Ursula fest in die Augen. Mit ernstem, offenem Blick hielt diese der Musterung stand. Was ging in Esters Kopf vor? fragte sie sich und wusste zugleich, dass die alte Frau sich dasselbe in Bezug auf sie fragte. Ein kleines verlegenes Lächeln schlich sich um ihre Mundwinkel. „Gut, ich werde es dir zeigen. Aber zuerst bring mir ein Blatt von dem Kraut, das ich dir eben gezeigt habe.“
    Es war ein kleiner Test, und Ester hatte keinen Zweifel daran, dass Ursula ihn bestehen würde. Schon war das Mädchen wieder bei ihr mit einem Zweiglein Baldrian in der Hand. Was folgte, war für Ursula ein wunderbares Spiel, das sie hätte endlos betreiben wollen. Die Alte zeigte ihr ein Kraut und wies sie an, woanders danach zu schauen. Wenn Ursula meinte, das gleiche Gewächs gefunden zu haben, trat Ester hinzu und lobte den Fund oder schüttelte mit dem Kopf. Dann zeigte sie Ursula die kleinen Unterschiede zwischen der richtigen und der falschen Pflanze. Sie wies auf verschieden Blattformen, Blütenstände oder Stengel hin. Hatte Ursula die richtige Pflanze gefunden, folgten dem Lob einige kurze Sätze über die Kraft und Nützlichkeit, die in dem Kraut zu finden waren. Die Zeit verging Ursula dabei wie im Flug, und viel zu bald war immer der Zeitpunkt erreicht, an dem sie sich wieder ihren Pflichten zuwenden musste oder von der Bäuerin gerufen wurde.
    Behutsam unterrichtete Ester ihren Sohn und dessen Frau Ingrid von ihrem Plan, Ursula zu unterweisen. Sie führte ihre eigene Gebrechlichkeit an und dass sie nicht mehr so gut sehe. Das Mädchen wäre ihr eine große Hilfe und würde so auch dafür sorgen, dass immer reichlich Kräuter für Essen und Trinken im Hof wären. Ihr Wissen, das wusste die alte Frau, hatte auf dem Hof schon so manchem geholfen, und auch wenn klares Wasser, die Flüssigkeit, die nach dem Buttern übrigblieb, Dünnbier, das sie selber brauten, und verdünnter Wein die häufigeren Getränke waren, so hatten sich längst alle daran gewöhnt, dass es auch Aufgüsse von Kräutern gab. Besonders der Sud aus Melisse, Hagebutten und getrockneten Apfelschalen sowie Brombeerblättern, etwas gesüßt mit Honig, erfreute sich als erfrischender Trank großer Beliebtheit auf dem Hof. Matthes war rasch bereit, seine Mutter gewähren zu lassen, doch seine Frau sträubte sich. „Ja, und was wird aus der Arbeit? Dann hängen die Kleinen mir wieder an den Rockzipfeln, und nichts geht voran.“ Ester ließ diesen Einwand nicht gelten. „Ursula kann Liesel und Magda mitnehmen, sie werden nicht stören“, erwiderte sie ihrer Schwiegertochter. „Sollte Arbeit liegenbleiben, werde ich das Mädchen scheuchen“, versicherte sie zusätzlich. Matthes brummte: „Lass sie es versuchen. Wenn es nicht geht, geht’s nicht. Ansonsten kann es nicht schaden.“ Damit war eigentlich alles entschieden, und Ingrid zeigte sich einverstanden.
    Für Ursula waren die folgenden Wochen wie ein Rausch. Sie wurde nicht müde, Neues zu lernen, und all das, was sie erfuhr, bewahrte sie in ihrem Kopf auf wie in einem Schatzkästchen. Schon bald begann Ester zu überprüfen, was das Mädchen von den Eigenschaften der Pflanzen und ihren Erscheinungsbildern behalten hatte. Zu ihrer großen Freude zeigte sich, dass Ursula nicht nur immer weniger Fehler machte, sondern auch
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