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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt
Autoren: Christoph Marzi
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Catalina ohne aufzuschauen.
    Die Stadt schwand in Windeseile und was blieb, war nur ein Nichts aus hellem Pergament. Die Leere, die draußen vor dem kleinen Fenster geboren wurde, näherte sich unaufhaltsam der Windmühle von Montjuic, die, das ahnte Catalina, bald wieder nur in Montjuic existieren würde und nirgendwo sonst. Sie wusste, dass sie die Dinge wieder ins Lot brachte. Sie spürte, dass die dunklen Schatten dort, wo sie noch waren, zu schwinden begannen. Jede Straße, jedes Haus, das die Schattenstadt verließ, wurde in der anderen Welt, in der Catalina den Jungen kennengelernt hatte, von der Dunkelheit befreit.
    Catalina stellte sich die singende Stadt vor, wie sie bunt wurde und ihre alten Lieder wiederfand. Sie sah die riesigen Wolkengebilde aufbrechen, die man Fäden der Meduza nannte, und die Sonne, wie sie die azurblauen Wellen vor Port Vell küsste. Sie sah gesunde Gischtgeister in den Fluten springen und die Fischerboote begleiten. Sie sah die mächtigen Türme der Sagrada Família, die stolz in den Himmel ragten. All das erblickte sie, weil es da war. Weil es das war, was sie zu zeichnen vermochte.
    Catalina Soleado heilte die Welt, die sie kannte.
    Sie fragte sich, ob auch das Haus der Nadeln wieder gesunden würde, ob der alte Firnis nach Barcelona zurückkehren würde. Sie fragte sich, was mit all den anderen Städten geschah, die den Schatten zum Opfer gefallen waren. Würden die fliegenden Galeonen vom Himmel stürzen, wenn ihnen die Kraft genommen würde? Würden wirklich alle Schatten zu ihren Körpern zurückkehren können?
    Dies waren die Fragen, die sie bestürmten. Unstete Gedanken, die nach Antworten suchten und keine fanden. Gedanken, die ihr leise zuflüsterten und Wünsche aussprachen.
    Sie sprang vom Hocker und hob Saritas Karte vom Boden auf, legte sie auf den Tisch und betrachtete sie lange.
    Und dann, mit einer schnellen Bewegung, fuhr sie über das Papier. Sie berührte den Namen der Stadt.
    Und die Karte erwachte zum Leben. Die dünnen Striche und all die verwegenen Linien veränderten sich, wie die singende Stadt es tat. Schatten zogen sich aus den Straßen zurück, es sah aus, als flössen sie alle ins Meer hinein.
    »Wie machst du das?«, entfuhr es Jordi.
    »Meine Mutter hat diese Karte gezeichnet.«
    »Du hast mir davon erzählt«, erinnerte er sich, »im Haus der Nadeln.«
    »Ja.« Nur nebenbei registrierte Catalina, wie die Bilder aufflackerten, als seien sie eine gezeichnete Version der Laterna Magica. Verzerrte Bilder, die alle durcheinanderwirbelten.
    Und während die Karte sich veränderte, fand Catalina die Antworten, nach denen sie sich gesehnt hatte.
    Jordi war bei ihr, ganz dicht, ganz nah. Er war vom Fenster zurückgetreten.
    »Gleich ist es hier«, hörte sie ihn sagen. Catalina lehnte sich gegen ihn und öffnete die Augen. Sie wusste, was er meinte.
    »Manche Rätsel«, sagte Miércoles mit lächelnder Stimme, »werden irgendwann sogar gelöst.« Dann breitete er die Schwingen aus und sprang aus dem Fenster, glitt elegant der anstürmenden Welle aus Nichts entgegen. Catalina sah nicht, wo er strandete. Er war einfach fort, so geheimnisvoll, wie er damals in Malfuria aufgetaucht war.
    »Leb wohl«, flüsterte sie ihm hinterher.
    Und als sie den letzten Strich ausführte und mit dem letzten Tropfen Tinte die schmalen Augen der Reisenden ausmalte, als die Königin der Schattenstadt endgültig mit ihrem Körper vereint wurde, nach all den langen Jahrhunderten, da löste sich auch die letzte Kartenmacherin in der Stadt aus Nacht und Nirgendwo auf und alles, was dort gelebt hatte, war mit einem Mal Vergangenheit.

Sonnenlieder
    Die Sonne schien in warmen Strahlen durch die bunten Fenster im Haus der Nadeln und Firnis Cervantes, der schon viel in seinem langen Leben erlebt hatte, aber nichts wie dies hier, öffnete die Augen und saß an einem Tisch, der ganz ruhig atmete und dabei so sanft schaukelte, als habe es niemals in seinem Leben einen Funken Aufregung gegeben.
    Der alte Bibliothekar hatte gerade in einem Buch gelesen oder war während des Versuchs, dies zu tun, eingeschlafen.
    Firnis blinzelte ins Sonnenlicht, das die Buchstaben zum Leben erweckte. Seine Hand ruhte auf dem Papier, das warm war und fest.
    Ein Kater mit Flügeln saß in dem Stuhl, ihm gegenüber. Er schnurrte – und Firnis, der nicht verstand, was das Tier sagte, lächelte gütig und milde und sagte: »Du bist ein Sphinx, nicht wahr?«
    Der Sphinx sprang auf die Tischplatte. Güldene Augen
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