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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt
Autoren: Christoph Marzi
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alles, und so viel.
    So begann sie zu zeichnen.
    Sie tauchte den Stift in ein Glas mit Tusche und führte ihn zum Papier, das sie vor sich ausgebreitet hatte. Jetzt, da sie zu zeichnen begann, war es wie früher. Als sei kein einziger Tag vergangen, seitdem Sarita sie in diese Windmühle gebracht hatte.
    Doch auch daran wollte sie nicht denken.
    Alles, worauf sie sich konzentrieren musste, war Kassandra Karfax. Auf jedes Detail musste sie achten.
    Ja, so funktionierte es.
    Sie begann mit den Augen. Sie sah sie vor sich, die Papierfetzen, alles. Ihre Hand führte den Tuschestift über das Pergament und so wurde, Stück um Stück, die Reisende geboren. Wangen, Nase, Stirn, Mund und Haare. Dann Hals und Körper und alles, was sie sonst noch war. Sie gewann an Schärfe und Kontur, bekam Tiefe und Leben eingehaucht.
    Jeden Papierfetzen, der ihr an der Haut klebte, malte das Mädchen. Und zu allem, was sie malte, zeichnete sie den Schatten hinzu. Ja, selbst die schwarzen Buchstaben, die jemand auf die Papierfetzen geschrieben hatte, zeichnete sie in das Porträt hinein. Und je deutlicher das Abbild der Reisenden wurde, desto mehr erwachte es zum Leben und desto verzweifelter wehrten sich die Buchstaben.
    Catalina war die Mephistia.
    Die letzte Kartenmacherin.
    Und sie malte Kassandra Karfax, wie sie wirklich war. Alles an ihr, was lebte und atmete, brachte sie zu Papier. Und alles an ihr, was einen Schatten warf, bekam einen gezeichnet. La Sombría entstand so fast ganz nebenbei. Sie war die Schwester der Reisenden, sie besaß das Antlitz, das auch Kassandra Karfax besaß. Und genauso zeichnete sie Catalina.
    Schwestern in Hell und Dunkel.
    Sie heilte, was nie hätte getrennt werden dürfen. Sie fügte zusammen, was das Silber vor langer, langer Zeit zerschnitten hatte.
    Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Jordi einen Schritt vortrat und aus dem Fenster starrte, und als sie für einen kurzen Augenblick seinem Blick folgte, da bemerkte sie es auch: Die Stadt aus Nacht und Nirgendwo begann sich zu verändern. Während Catalina zeichnete, schwanden draußen die Häuser und Straßen. Sie lösten sich auf, sie kehrten zurück, sie wurden ausradiert. Die Konturen wurden erst unscharf, dann durchsichtig, dann waren sie fort. Wie eine Welle erfasste die Veränderung einen Stadtteil nach dem anderen. Catalina ahnte, wo die Brandung in heller Gischt explodieren würde.
    »Die Stadt zerfällt«, sagte Jordi staunend.
    Doch Catalina reagierte nicht.
    Miércoles saß ruhig da, wie es die Art der Sphinxe ist.
    Catalina wendete den Blick wieder ab von dem, was sich da draußen zutrug. Nein, sie wollte nicht sehen, was genau passierte, und sie wollte auch gar nicht sehen, wie es passierte. Sie war die letzte Kartenmacherin und alles, was sie tun musste, war zu zeichnen.
    Ihre Hand führte den Stift, als sei er eine Verlängerung ihres Arms. Sie fragte sich kurz, ob sie auch hier, in der Stadt der Schatten, einen Preis zu zahlen hatte für das, was sie tat. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken, denn es war zu spät, ihm nachzuhängen. Es gab keinen anderen Weg mehr, den sie gehen konnte.
    So zeichnete sie weiter.
    Fiebernd, ohne Unterlass.
    Immer genauer wurde die Zeichnung. Fast konnte man das Mädchen im Gesicht der Reisenden erkennen, das kleine Mädchen, das die Reisende einmal gewesen war. Und so wurde die Königin der Schattenstadt wieder zu dem gewöhnlichen Schatten, der einmal einem Kind namens Kassandra Karfax gehört hatte.
    Catalina hatte keine Ahnung, was draußen in der Wüste wohl geschehen würde. Welche Auswirkung dies alles auf die wirkliche Kassandra Karfax, auf La Sombría und auf Malfuria hatte.
    Die Stadt aus Nacht und Nirgendwo jedenfalls zerfiel schneller und schneller, je genauer Catalina ihre Zeichnung anfertigte. Es gab keine Schreie in den Straßen, nichts. Nur Rauschen, das die Luft erfüllte. Nur Licht, das über das brüchige Firmament flutete. Und die Welle, die das Nichts brachte und sich unaufhörlich der Windmühle näherte.
    Herrje, es funktionierte tatsächlich.
    Sie spürte es.
    In den Fingern und im Herzen.
    Das war es, was Kassandra Karfax nicht berücksichtigt hatte. Sie war die Mephistia und sie konnte die Karten auch in der Stadt aus Nacht und Nirgendwo zeichnen. Selbst der Schatten Catalinas, der sie jetzt war, konnte dies tun. Vielleicht, dachte sie benommen, war es genau das, weswegen es die Mephistia überhaupt gab.
    »Sie wird kleiner«, sagte Jordi und meinte die Stadt.
    »Ja«, murmelte
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