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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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wieder auf die Türöffnung fielen, hatte ich schon die ersten Stufen erklommen.
    Oben empfing mich das Dröhnen der
malefico
mit einer Wucht, dass ich mich aus Furcht, ein Schlag könne mich hinunterwirbeln, unwillkürlich unter die Brüstung duckte. Auf dem Glockenturm loderte das Leuchtfeuer. Während ich mich wunderte, warum die Venezianer am helllichten Tag ein Richtfeuer unterhielten, sah ich den Rücken des Glöckners, der sich im Rhythmus der Schläge hob und senkte. William schaukelte unbekümmert in seinem Käfig und schien das zweifelhafte Vergnügen seiner hervorragenden Aussicht zu genießen. Ich wagte es nicht, ihm etwas zuzurufen, meine Stimme hätte laut sein müssen, um die Glocke und das Schreien der Menge zu übertönen, als der zweite Staatsverräter in den Strick fiel. Vorsichtig hob ich den Kopf. Wie, in drei Teufels Namen, sollte es mir gelingen, William aus seinem schaukelnden Gefängnis zu befreien? Ich konnte nicht einmal den Käfig erreichen. Außerdem hing ein dickes Schloss vor der Gittertür, und es war kaum anzunehmen, dass der Schlüssel hier irgendwo herumlag.
    Ich umkreiste auf allen vieren den Glockenturm, bis ich wieder an der Kanone ankam, die man – aus welchen Gründen auch immer – von der Brüstung weg auf die Plattform gezogen hatte. Daneben lehnte ein langer Stab, um dessen Spitze Stroh und Reisig gewickelt waren. Ich begriff den Sinn nicht, doch konnte ich mit dem Stock vielleicht nach dem Käfig angeln oder mich gegen den Glöckner wehren, denn jederzeit konnte er mich entdecken. Mit dem Stock bewehrt, kroch ich zur Brüstung. Unter mir sah ich auf der Piazza die wogende Menschenmenge, die sich bis in den Hof des Dogenpalastes drängte. Ich erkannte das Podest mit den hohen Herren in prächtigen Kleidern, als gäbe es ein Fest zu feiern und keine Hinrichtung. Inzwischen waren fünf Galgen besetzt, am sechsten stand der nächste Verurteilte mit der Schlinge um den Hals bereit, gleich würde er fallen. Ich schob den Stock über die Mauer, und tatsächlich, ich konnte die Gitterstäbe erreichen und so Williams Aufmerksamkeit auf mich lenken. Beinahe unwillig drehte er sich zu mir, als käme ich ungelegen und würde ihm nun den ganzen Spaß verderben.
    »William«, flüsterte ich zwischen zwei Glockenschlägen, unsicher, ob er mich bei dem unten herrschenden Lärm überhaupt hörte. »Hast du eine Idee, wie ich dich befreien kann?«
    Er lachte. »Nein. Es ist unmöglich. Siehst du nicht das Schloss? Außerdem kommst du nicht an den Käfig heran. Oder willst du etwa behaupten, du wüsstest, wie?«
    »Nein«, zischte ich. »Das frage ich gerade dich.«
    Erst jetzt bemerkte ich, dass die
malefico
nicht mehr schlug. Ich zog den Stock von der Mauer und blickte mich um. Der Glöckner kam auf mich zu. Erschrocken sprang ich neben die Kanone, um gleich darauf zu erkennen, dass diese nun zwischen mir und dem Eingang stand. Panisch flackerte mein Blick umher. Der Glöckner stand nun vorne an der Brüstung, sah hinunter und dann wieder zu mir. Ich hob den Stab zum Feuer, tauchte die Spitze hinein, und sofort begannen Stroh und Reisig zu brennen. Als könnte ich dem Mann damit etwas anhaben, fuchtelte ich vor ihm herum. Er wich zwar zurück, schien aber nicht sonderlich beeindruckt. Stattdessen lächelte er sogar und erklärte: »Du musst vor mir keine Angst haben. Hast du dich auf den Turm geschlichen, um das Spektakel besser zu sehen?«
    Ich nickte angespannt und wunderte mich – als gäbe es nichts Wichtigeres zu denken – über seine Erscheinung. »Den Glöcknern in Venedig scheint es nicht schlecht zu gehen«, murmelte ich und fügte hinzu: »Allerdings seht Ihr gar nicht aus wie ein Venezianer.«
    Nun lachte er amüsiert. »Bitte pass mit dem Feuer auf, du bist damit gefährlich nahe an der Lunte der Kanone. Ich bin kein Glöckner. Und dass ich nicht aussehe wie ein Venezianer, liegt wohl daran, dass ich keiner bin. Ebenso wenig wie du in dieser schönen Stadt geboren wurdest.«
    »Ich komme aus Schottland«, stotterte ich und fragte: »Wer seid Ihr dann?«
    »Ich bin Deutscher. Mein Name ist Peter Parler.«
    Vor Überraschung vergaß ich für einen Augenblick alles: William, der im Käfig hockte, und vor allem meine Furcht.
    Als der Deutsche meine Verwirrung sah, erklärte er: »Du wunderst dich, warum ich die Glocke läute? Da muss ich weiter ausholen. Ich stehe im Dienste des Kaisers und baue in Prag für ihn einen Dom. Die Arbeiten haben allerdings einen herben Rückschlag
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