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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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Ziele ins Zentrum der Welt gestellt hatte, jenes Schicksal ereilen, das er einst dem Engländer und Sinead zugedacht hatte: der Tod auf dem Schafott.
    Das blaue Meer glitzerte im Sonnenlicht. Boote mit weißen Segeln fuhren über das Wasser. Es war ein Bild des Friedens, das den Kaiser mit der Sehnsucht nach dem Leben erfüllte – die Fischer fuhren aufs Meer, das ihnen die Nahrung zum Überleben schenkte. Um wie viel komplizierter war sein Dasein, wie weit entfernt von dieser von Gott gegebenen Ursprünglichkeit!
    Der Kaiser beschattete die Augen gegen das gleißende Sonnenlicht. Das Wetter würde sich ändern. Am Horizont zogen dunkle Wolken auf.

60
    Der Doge begibt sich zum zweiten Mal auf die
scala foscara,
und die Kanonen auf dem Campanile donnern
    Ü ber der Lagune braute sich ein Unwetter zusammen. Es sah aus wie eine schwarze Walze, die bedrohlich über den Himmel auf die Stadt zurollte. Im Hof des Dogenpalasts bereitete der Henker mit seinen Knechten die Hinrichtungen vor. Es war keine leichte Aufgabe. Sie mussten zusammen mit den Zimmerleuten zehn Galgen und eine Bühne für die Honoratioren aufstellen. Es galt, zehn Senatoren zu hängen und einen Dogen zu enthaupten. Das schauerliche Fest wollte gut vorbereitet sein.
    Die Händler, Spielleute und Gaukler, die zum Besuch des Kaisers in die Stadt gekommen waren, rieben sich die Hände. Die Hinrichtungen würden ihre Einnahmen verdoppeln. Ebenso wie die der Diebe und Huren.
    Das alles erfuhr ich von einem blinden Alten, den ich aushorchte, denn ein Blinder war kaum in der Lage, Auskunft darüber zu geben, wer ihn befragt hatte. Ich konnte mir nämlich zunächst keinen Reim auf den erneuten Trubel machen, der in der Stadt seit dem Morgen ausgebrochen war.
    Als ich über die Piazza eilte, um zur Unterkunft der Palastdiener zu gelangen, sah ich zu William in seinem Käfig am Campanile hoch. Wie ich ihn kannte, würde er auch diesmal nur das Gute in einer schlechten Lage sehen und sein Gefängnis am heutigen Tag mit den Worten preisen: Es gibt wohl kaum einen gemeinen Mann in ganz Venedig, der einen besseren Blick hat als ich. Ich winkte ihm hastig zu, obwohl er bestimmt jetzt schon hinüber zum Palasthof sah, um keine der Vorbereitungen zu versäumen, die dort getroffen wurden. Dann ertönte vom Turm her der erste düstere Schlag der
malefico,
und ich wusste, dass Eile geboten war.
    Ungehindert gelangte ich im Gesindehaus in den Raum, in dem ich mit William das Bett geteilt hatte. Niemand war mir begegnet. Hastig durchwühlte ich das Stroh – einmal, zweimal, dreimal. Dann kniff ich die Lippen zusammen und eilte wieder nach draußen. Was ich schon befürchtet hatte, war nun Gewissheit. Sie hatten William das Geld für den falschen Mantel längst wieder abgenommen.
    Inzwischen hatte sich die ganze Piazza mit Schaulustigen gefüllt. Es war ein Durcheinander ohnegleichen. Die Menge wogte, schrie und tobte. Bewaffnete mussten mit Stöcken und Speeren einen Weg für die Wagen mit den Verurteilten bahnen. Trotz des ohrenbetäubenden Lärms lag über allem der schauerliche Klang der
malefico,
wie eine eigene Stimme des Todes, die mit ihrer erbarmungslosen Botschaft selbst den schlimmsten Lärm übertönt.
    Um all dies kümmerte ich mich nicht. Sollte es auch nur eine vage Möglichkeit geben, erneut in den Campanile zu gelangen, dann während der Hinrichtungen, wenn die Wachen durch das Schauspiel abgelenkt waren. Und um den Glöckner würde ich mir erst Gedanken machen, wenn ich oben angelangt war.
    Wie erwartet versperrten auch heute wieder Wächter den Eingang zum Turm. Es waren junge, angespannte Burschen, man sah gleich, dass sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlten, zu leicht konnte es passieren, dass ein Teil der Menge den Campanile stürmen wollte, um von oben die beste Aussicht zu haben. Ich schlich mich an den Rand der Menge, die immer noch versuchte, näher zum Schauplatz zu drängen. Alle standen auf den Zehenspitzen, immer wieder sprang jemand in die Höhe, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.
    Dann schrie und johlte plötzlich die Menge:
»Il primo!«
Die Hälse wurden noch länger, und es geschah tatsächlich das, worauf ich gehofft hatte: Nur für einen Augenblick vergaßen die Wächter ihre Aufgabe. Neugierig machten sie ein paar Schritte vom Eingang weg, um vielleicht doch zu sehen, wie der erste Senator am Strick baumelte. Dieser kurze Moment genügte mir. Ich huschte ins Dämmerlicht des Turms, und bevor die Schatten der Wächter
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