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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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verdünnt. Da ihr nicht wollt, daß sie stirbt, habt ihr vielleicht Glück gehabt, uns zu begegnen. Ob sie auch Glück hat, das kann ich nicht sagen.«
    Ich dankte ihr und erkundigte mich, wo die dritte Person, die wir am Feuer gesehen hatten, geblieben war.
    Die alte Frau seufzte, blickte mich kurz an und widmete sich wieder Jolenta.
    »Wir waren nur zu zweit«, antwortete die jüngere. »Habt ihr drei gesehn?«
    »Ganz deutlich im Feuerschein. Deine Großmutter –wenn sie das ist – blickte auf und sprach mit mir. Du und die andere Person strecktet die Hälse und bücktet euch wieder.«
    »Sie ist die Sibylle.«
    Ich hatte das Wort schon einmal gehört, konnte mich zunächst aber nicht daran entsinnen, und der Miene der jungen Frau, starr wie die einer Oreade in einem Gemälde, war kein Hinweis zu entnehmen.
    »Die Seherin«, ergänzte Dorcas. »Und wer bist du?«
    »Ihre Gehilfin. Mein Name ist Merryn. Es ist vielleicht bedeutsam, daß ihr, die ihr drei seid, uns zu dritt am Feuer gesehen habt, während wir, die wir zwei sind, zuerst nur zwei von euch gesehen haben.« Als suchte sie eine Bestätigung, schaute sie zur Sibylle und dann, als hätte sie sie erhalten, wieder zu uns, obwohl ich nicht bemerkte, daß sie einen Blick ausgetauscht hätten.
    »Ich bin mir ziemlich sicher, eine dritte Person gesehen zu haben, die größer war als ihr«, beteuerte ich.
    »Heut’ ist ein seltsamer Abend, und es gibt solche, die durch die Nachtluft reiten und sich manchmal leihweise einer menschlichen Erscheinung bedienen. Die Frage ist nur, warum eine solche Macht sich euch zeigen wollte.«
    Die Wirkung ihrer dunklen Augen und ihrer gelassenen Miene war so groß, daß ich ihr wohl geglaubt hätte, wäre da nicht Dorcas gewesen, die mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung meinte, die dritte Person am Feuer hätte sich unserer Aufmerksamkeit entziehen können, indem sie das Dach überquert und sich auf der anderen Seite des Giebels versteckt hätte.
    »Sie mag überleben«, sagte die Sibylle, ohne den Blick von Jolentas Gesicht abzuwenden. »Obwohl sie nicht den Wunsch dazu hat.«
    »Wie gut für sie, daß ihr beide so viel Wein habt«, erwiderte ich.
    Die Greisin ging mir nicht auf den Leim, sondern versetzte nur: »Ja, wie gut für dich und vielleicht sogar für sie.«
    Merryn nahm einen Stock und schürte das Feuer. »Es gibt keinen Tod.«
    Ich lachte kurz, hauptsächlich wohl deswegen, weil ich nicht mehr ganz so besorgt war um Jolenta. »Die Vertreter meines Standes denken anders.«
    »Die Vertreter deines Standes irren.«
    Jolenta murmelte: »Doktor?« Das war das erste Wort, das sie seit dem Morgen gesprochen hatte.
    »Du brauchst jetzt keinen Arzt«, sagte Merryn. »Jemand Bessres ist hier.«
    Die Sibylle murmelte: »Sie sucht ihren Geliebten.«
    »Der also nicht dieser Mann in Schwarz ist, Mutter? Ich dachte mir schon, er sei zu gewöhnlich für sie.«
    »Er ist nur ein Folterer. Sie sucht jemand Schlimmeres.«
    Merryn nickte für sich und erklärte uns dann: »Ihr werdet sie heut’ nacht nicht weitertransportieren wollen, aber darum müssen wir euch bitten. Auf der anderen Seite der Ruinen findet ihr hundert bessere Rastplätze, und es wäre gefährlich für euch, bliebet ihr hier.«
    »Gefährlich fürs Leben?« fragte ich. »Aber du sagst doch, es gebe keinen Tod – was soll ich fürchten, wenn ich dir glaube? Und wenn ich dir nicht glaube, warum sollte ich dir jetzt glauben?« Dennoch stand ich auf zum Gehen.
    Die Sibylle blickte auf. »Sie hat recht«, krächzte sie. »Obwohl sie es nicht weiß und nur nachplappert wie ein Star in einem Käfig. Der Tod ist nichts, und aus diesem Grunde müßt ihr ihn fürchten. Was ist fürchterlicher?«
    Wiederum lachte ich. »Ich kann mich nicht mit jemand streiten, der so weise ist wie du. Und weil ihr uns geholfen habt, so gut ihr es gekonnt, wollen wir nun gehen, wenn ihr es wünscht.«
    Die Sibylle ließ mich gewähren, als ich Jolenta von ihr nahm, sagte aber: »Ich wünsche es nicht. Meine Gehilfin glaubt noch, das Universum gehöre ihr, sei ihrem Willen unterworfen, sei ein Spielbrett, auf dem sie die Steine nach Gutdünken herumschieben könnte. Die Magi erachten mich für würdig, mich unter sich einzureihen, wenn sie ihre kurze Namensliste schreiben, und ich verlöre meinen Platz auf ihr, wüßte ich nicht, daß Leute wie wir nur kleine Fische sind, die mit unsichtbaren Strömungen schwimmen müssen, wollen wir uns nicht erschöpfen, ohne Nahrung zu finden. Wickle
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