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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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Greisin keine Antwort gab, erwiderte Merryn: »Es ist weniger als eine Legende, denn nicht einmal die Gelehrten kennen seine Geschichte. Die Mutter hat uns gesagt, sein Name bedeute Haupt des Tages. In den frühesten Äonen erschien er in dieser Gegend und lehrte die Leute viele wunderbare Geheimnisse. Er verschwand oft, kehrte aber immer wieder. Schließlich kam er nicht mehr zurück, und Eindringlinge legten seine Städte in Schutt und Asche. Nun soll er ein letztes Mal wiederkehren.«
    »Wirklich? Ohne Zauberei?«
    Die Sibylle sah Dorcas aus Augen an, die so hell wie die Sterne schienen. »Wörter sind Symbole. Merryn beschränkt die Zauberei gern als etwas, das nicht existiert … also existiert sie nicht. Wenn du das, was wir hier tun werden, als Zauberei bezeichnen willst, dann existiert Zauberei, während wir sie betreiben. In einem fernen Land gab es einmal zwei Reiche, die durch ein Gebirge getrennt wurden. Ein Herrscher kleidete seine Soldaten gelb, der andere die seinen grün. Hundert Generationen lang bekriegten sie sich. Ich sehe, dein Begleiter kennt die Geschichte.«
    »Und nach hundert Generationen«, fuhr ich fort, »kam ein Einsiedler zu ihnen und riet dem Herrscher des gelben Heeres, seine Mannen grün zu kleiden, und dem Führer der gelben Armee, seine Krieger in gelbe Uniformen zu stecken. Aber der Kampf ging weiter wie zuvor. In meiner Gürteltasche habe ich ein Buch, das heißt Die Wunder von Himmel und Urth, und darin steht diese Sage.«
    »Das ist das weiseste aller menschlichen Bücher«, sagte die Sibylle, »obwohl daraus nur wenige vom Lesen einen Nutzen ziehen können. Kind, erkläre diesem Mann, der eines Tages ein Weiser sein wird, was wir heut’ nacht tun.«
    Die junge Hexe nickte. »Die ganze Zeit existiert. Das ist die Wahrheit, die alle Legenden übersteigt. Wenn die Zukunft jetzt nicht existiert, wie könnten wir uns darauf zubewegen? Wenn die Vergangenheit nicht noch existierte, wie könnten wir sie hinter uns lassen? Im Schlaf ist der Geist in seine Zeit eingebettet, weswegen wir so oft die Stimmen der Toten hören oder Wissen über das Kommende erlangen. Jene, die wie die Mutter gelernt haben, wachend in diesen Zustand zu gelangen, leben, von ihren Leben umgeben, genauso wie der Abraxus die ganze Zeit als einen immerwährenden Augenblick gewahrt.«
    Es hatte wenig Wind gegeben in dieser Nacht, doch fiel mir nun auf, daß der wenige sich nun ganz gelegt hatte. Eine Stille lag in der Luft, daß Dorcas Worte trotz ihrer sanften Stimme in meinen Ohren zu dröhnen schienen. »Ist’s denn das, was diese Frau, die du die Sibylle nennst, tun wird? In diesen Zustand überzugehen und mit der Stimme des Toten diesem Manne zu sagen, was er zu wissen wünscht?«
    »Das kann sie nicht. Sie ist sehr alt, aber diese Stadt ist längst zerstört gewesen, als sie Leben erlangt hat. Nur ihre eigene Zeit umgibt sie, denn mehr kann der Geist aus eigener Erfahrung nicht erfassen. Um die Stadt Wiederaufleben zu lassen, müssen wir uns eines Geistes bedienen, der gelebt hat, als sie ganz gewesen ist.«
    »Gibt es denn auf der Welt jemand, der so alt ist?«
    Die Sibylle schüttelte den Kopf. »In der Welt? Nein. Dennoch existiert ein solcher Geist. Schau, wohin ich zeige, Kind, unmittelbar über den Wolken! Der rote Stern dort heißt Fischmaul, und auf seiner einzigen überlebenden Welt wohnt ein uralter, scharfsinniger Geist. Merryn, nimm meine Hand, und du, Dachs, nimm die andere! Folterer, nimm die Rechte deiner kranken Freundin und Hildegrins Rechte. Deine Buhlin muß die Linke der Kranken und Merryns Linke nehmen … Nun ist der Kreis geschlossen, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.«
    »Und wir sollten uns besser beeilen«, brummte Hildegrin. »Es kommt ein Unwetter, würd’ ich sagen.«
    »Ja – so schnell es geht. Nun muß ich den Geist eines jeden von euch benutzen, und der Geist der Kranken wird mir keine große Hilfe sein. Ihr werdet spüren, wie ich euer Denken lenke. Tut, was ich euch sage.«
    Indem sie Merryns Hand kurz losließ, griff die alte Frau (falls sie überhaupt eine Frau war) in ihr Mieder und zog eine Wurzel hervor, deren Spitzen sich in der Dunkelheit auflösten, als lägen sie am Rande meines Blickfelds, obwohl die Wurzel nicht länger als ein Dolch war. Sie öffnete den Mund; um die Wurzel zwischen den Zähnen zu halten, wie ich glaubte, aber sie schluckte sie hinunter. Im nächsten Moment erkannte ich das leuchtende Gebilde als scharlachroten
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