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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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die Hexen selbst, die da schrien, nicht ihre Klienten, denn Klienten in unserem Sinne hatten sie nicht. Diese Schreie waren auch nicht das Geheule der Irrsinnigen oder das Gekreische der Gequälten wie bei uns.
    Ich war aufgefordert worden, mir die Hände zu waschen, um das Kuvert nicht zu beschmutzen, und ich war mir sehr darüber bewußt, wie feucht und gerötet sie waren, als ich mir meinen Weg durch die gefrierenden Wasserpfützen, die den Platz bedeckten, suchte. Dabei malte ich mir eine Hexe als eine ungeheuer würdige und demütigende Person aus, die sich nicht scheuen würde, mich auf eine besonders widerwärtige Art zu bestrafen, wagte ich es doch, ihr einen Brief mit geröteten Händen zu überbringen, und mich obendrein mit einer schmählichen Meldung an Meister Malrubius zurückzuschicken.
    Ich war wohl noch sehr klein, denn ich mußte springen, um den Türklopfer zu erreichen. Das Klatschen meiner dünnen Schuhsohlen auf der ausgetretenen Schwelle zum Hexenturm ist mir noch gegenwärtig.
    »Ja?« Das Gesicht, in das ich blickte, war kaum höher als das meine. Es war eines jener Gesichter – einzigartig unter den Hunderttausend, die ich gesehen hatte –, das gleichzeitig Schönheit und Krankheit ausdrückt. Die Hexe, der es gehörte, wirkte alt, war aber eigentlich erst um die Zwanzig oder noch jünger und hatte den altersgebeugten Gang einer hochbetagten Greisin. Ihr Gesicht war so lieblich und so blutleer, es hätte eine von Meisterhand in Elfenbein geschnitzte Maske sein können.
    Stumm hielt ich ihr den Brief entgegen.
    »Folge mir!« sagte sie. Das war die Aufforderung, die ich befürchtet hatte und die mir nun, da sie ausgesprochen war, so unvermeidlich wie die Folge der Jahreszeiten vorkam.
    Ein ganz anderer Turm als der unsere nahm mich auf. Der unsere war bedrückend massiv mit seinem fugenlosen Verbund aus Metalplatten, die längst zu einer festen Einheit verwachsen waren, und in den Untergeschossen war es warm und feucht. Im Hexenturm schien nichts massiv, und das wenigste war’s. Viel später hatte mir Meister Malrubius erklärt, er sei viel älter als die meisten anderen Teile der Zitadelle und zu einer Zeit errichtet worden, als die Bauweise von Türmen nicht viel mehr als die Nachahmung der menschlichen Körperbeschaffenheit gewesen sei, so daß Stahlskelette als tragende Stütze für schwächeres Füllmaterial gedient hätten. Im Laufe der Jahrhunderte seien diese Skelette verrostet – bis schließlich die Struktur, der sie einst Festigkeit verliehen hätte, nur noch durch die stückweisen Ausbesserungen früherer Generationen gehalten werde. Übergroße Zimmer waren durch Wände, nicht dicker als eine Draperie, unterteilt, kein Fußboden war eben und keine Treppe gerade; jedes Geländer, das ich anfaßte, schien unter meiner Hand im nächsten Moment abzubrechen. Die Mauern waren mit okkulten Zeichen in Weiß, Grün und Purpurrot bemalt, aber die Einrichtung war spärlich und die Luft offenbar kälter als draußen.
    Nachdem ich mehrere Treppen und eine Leiter, die aus ungeschälten Schößlingen eines wohlriechenden Baumes zusammengebunden war, bestiegen hatte, wurde ich hastig vor eine alte Frau geführt, die auf dem einzigen Stuhl des Raumes saß und durch eine gläserne Tischplatte eine anscheinend künstliche Landschaft betrachtete, die unbehaarte, verkrüppelte Tiere bevölkerten. Ich überreichte ihr den Brief und wurde hinausgeleitet; allerdings hatte sie mir einen flüchtigen Blick zugeworfen, und ihr Gesicht, ähnlich dem Gesicht der jung-alten Frau, die mich zu ihr gebracht hatte, prägte sich natürlich meinem Gedächtnis ein.
    All dies erzähle ich hier, weil ich, als ich Jolenta neben dem Feuer aufs Dach gelegt habe, den Eindruck bekommen habe, daß die davor kauernde Frau dieselbe sei. Unmöglich; die Greisin, der ich meinen Brief übergeben hatte, wäre bestimmt schon tot, und das Mädchen hätte sich (falls es noch lebte) bis zur Unkenntlichkeit verändert – genau wie ich. Dennoch waren die Gesichter, die sich mir zukehrten, dieselben, an die ich mich erinnerte. Vielleicht gibt es nur zwei Hexen auf der Welt, die immer wiedergeboren werden.
    »Was ist denn mit ihr?« fragte die jüngere Frau, und Dorcas und ich erklärten es, so gut wir konnten.
    Lange bevor wir schlossen, hatte die ältere Jolentas Kopf in ihren Schoß gelegt und flößte ihr Wein aus einem Tonkrug ein. »Er würde ihr schaden, wäre er stark und könnte schaden. Aber er ist mit drei Teilen Wasser
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