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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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seinen Gipfeln und Schluchten und pflegten die Verwundeten aus dem endlosen Krieg gegen die Ascier. Auch dies lag im Gebirge. Hunderttausende kamen dort um eines Passes willen um.
    Nun waren wir aber in eine Stadt gelangt, in der keine Stimme bis auf die des Raben ertönte. Zwar hatten wir in Lederbeuteln Wasser aus dem Haus des Hirten mitgenommen, aber es war fast aufgebraucht. Jolenta war schwächer, und Dorcas und ich waren uns einig, daß sie sterben müßte, hätten wir bis zur Dämmerung kein frisches gefunden. Als die Urth sich allmählich über die Sonne wölbte, stießen wir auf einen Opfertisch, in dessen Becken sich Regen gesammelt hatte. Das abgestandene Wasser stank, aber in unserer Verzweiflung ließen wir Jolenta ein paar Schlucke trinken, die sie sofort wieder erbrach. Die sich drehende Urth enthüllte den inzwischen abnehmenden Mond, so daß er uns mit seinem fahlen Schein leuchtete, sobald das Sonnenlicht versiegte.
    Auf ein schlichtes Lagerfeuer zu stoßen, das wäre uns wie ein Wunder vorgekommen. Was wir tatsächlich sahen war wunderlicher, aber nicht so verblüffend. Dorcas deutete nach links. Ich schaute und bemerkte im nächsten Augenblick, was ich für einen Meteor hielt. »Eine Sternschnuppe«, sagte ich. »Hast du schon einmal eine gesehen? Manchmal fallen sie scharenweise.«
    »Nein! Das ist ein Gebäude – siehst du’s nicht? Die dunklen Umrisse vor dem Himmel. Es muß ein Flachdach haben, auf dem jemand mit Feuerzeug hantiert.«
    Ich wollte schon erwidern, daß sie eine zu große Phantasie habe, als eine schwache rote Glut, offenbar so winzig wie ein Stecknadelkopf, an der Stelle sichtbar wurde, wo die Funken gefallen waren. Im nächsten Augenblick entdeckte ich ein züngelndes Flämmchen.
    Es war nicht weit weg, aber die Dunkelheit und das Steinfeld, über das wir ritten, ließen es uns so erscheinen, und als wir das Bauwerk erreichten, brannte das Feuer so hell, daß wir davor hockende Gestalten erkannten. »Wir brauchen Hilfe«, rief ich. »Diese Frau liegt im Sterben.«
    Alle drei reckten die Hälse, und ein altes, krächzendes Weib fragte »Wer da? Ich höre eine Männerstimme, seh’ aber keinen Mann. Wer bist du?«
    »Hier«, rief ich und warf Mantel und Kapuze zurück. »Links von euch. Ich trage dunkle Kleidung, das ist alles.«
    »Soso … soso. Wer stirbt? Nicht das Blondschöpfchen … der Rotschopf. Wir haben Wein hier und ein Feuer, aber keine andere Arznei. Geht herum, dort ist die Treppe.«
    Ich führte unsere Tiere um die Hausecke, wie sie angedeutet hatte. Die Steinmauern verdeckten den tiefstehenden Mond, so daß wir im Finstern tappten, aber ich stieß auf eine rauhe Treppe, die wohl aus Bruchsteinen von eingestürzten Mauern entlang der Hauswand aufgeschichtet worden war. Nachdem ich den zwei Rennern die Vorderbeine gefesselt hatte, trug ich Jolenta hinauf, Dorcas folgend, die den Weg erkunden und mich vor Gefahren warnen sollte.
    Das Dach war nicht flach, wie sich zeigte; und die Neigung war so groß, daß ich mit jedem Schritt zu stürzen fürchtete. Die harte, schiefe Oberfläche bestand offenbar aus Ziegeln – einmal löste sich einer, glitt knirschend und polternd aus dem Gefüge und über die Kante und zerschellte unten auf den krummen Steinplatten.
     
    Als ich noch Lehrling und so jung war, nur mit den allereinfachsten Arbeiten betraut zu werden, erhielt ich einen Brief, den ich zum Hexenturm an der gegenüberliegenden Seite des Großen Platzes bringen sollte. (Viel später erfuhr ich, daß aus gutem Grund nur solche Knaben, die ihre Geschlechtsreife noch weit vor sich hatten, ausgewählt wurden, Botschaften zu übermitteln, welche die Nachbarschaft zu den Hexen erforderlich machte.) Nun, da ich um die Angst weiß, die unser eigener Turm nicht nur bei den Leuten des Viertels, sondern mehr oder weniger auch bei den Bewohnern der ganzen Zitadelle ausgelöst hat, kommt mir meine Furcht im Nachhinein als drollig und naiv vor; dennoch ist sie für den kleinen, unscheinbaren Knaben, der ich gewesen bin, sehr echt gewesen. Ich hatte schauerliche Geschichten von den älteren Lehrlingen gehört und erlebt, daß eindeutig mutigere Knaben als ich Angst bekamen. In diesem unheimlichsten der zahllosen Zitadellentürme brannten des Nachts seltsam bunte Lichter. Die Schreie, die wir durch die Bullaugen unseres Schlafsaals vernahmen, stammten nicht aus einem unterirdischen Verhörsaal wie dem unsrigen, sondern von den obersten Geschossen; und es waren, wie wir wußten,
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