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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn
Autoren: Stross Charles
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beschleunigen. Berge rahmen den fernen Horizont ein. Ist das, was ich am Fluchtpunkt sehe, Cinnabars riesige Kuppel? Ich bin mir nicht sicher; auch wenn ich die Sichtschärfe auf Maximum stelle, kann ich es nicht deutlich erkennen. »Was jetzt kommt, macht Spaß!«, zwitschert Lindy begeistert. »Versuch, ganz ruhig zu bleiben! Juhu! «

    Während der Horizont auf uns zurast, eine riesige Hand nach uns greift und zuschnappt, erhasche ich einen flüchtigen Blick auf Stützträger, die an Sägezähne erinnern. Einen Moment lang funkeln in meinem Sichtfeld unzählige strahlende Einzelobjekte auf und lösen sich in beängstigender Weise zu einzelnen Bildpunkten auf. Gleich darauf erschüttern mehrere gigantische Stöße meinen Kopf, so dass meine Zähne aufeinanderschlagen. Ich fühle mich so, als würde ich zu Matsch zerquetscht. Als Lindy mich fester in den Griff nimmt – so fest, dass es wehtut -, knacken meine Wirbel. Zugleich spüre ich, wie ich mich aufblähe und meine Eingeweide sich von Lindys Schaum einhüllen lassen. Doch jetzt ist der Bremsvorgang besser zu ertragen, und mein Blickfeld stabilisiert sich wieder. Ich kann nicht direkt nach vorn sehen; irgendetwas ist mir auf der Bahn vor uns im Weg. Einen panischen Moment lang denke ich: Wir werden auf das Ding aufprallen! Doch dann erkenne ich, dass es nur ein von seinem Kokon eingehüllter Mitreisender ist. Immer noch huschen die Stützträger der Bahn beängstigend schnell vorbei, doch inzwischen sind sie deutlicher auszumachen und wirken nicht mehr wie Sägezähne. Unsere Reisegeschwindigkeit muss sich mittlerweile auf weniger als tausend Stundenkilometer verringert haben. »Ist das immer so?«, frage ich Lindy.
    Keine Antwort. Mein Sichtfeld verdunkelt sich. »Lindy?«
    Nach kurzer Pause meldet sich eine unbekannte männliche Stimme in meinen Ohren: »Vielen Dank, dass Sie Astradyne Tours gewählt haben. Ihre Reise ist jetzt beendet und damit auch unsere Dienstleistung. In wenigen Augenblicken werden Sie den Empfangsbereich für ankommende Flüge an der Endstation Cinnabar City erreichen. Und hier ein Hinweis zu Ihrer eigenen Sicherheit: Bitte warten Sie mit dem Aussteigen, bis Sie ein stetes grünes Licht oberhalb Ihrer Reisekapsel leuchten sehen und die Kapsel sich selbstständig öffnet.«
    »Lindy?«, frage ich nochmals, aber sie antwortet nicht. Bald darauf wird mir klar, dass sie mir nie mehr antworten wird. Jetzt bin ich wieder auf mich selbst gestellt.

stummfilm
    MERKUR – EIN SONDERFALL UNTER DEN PLANETEN – ist in einer Wechselwirkung zwischen Eigenumdrehung und Sonnenorbit gefangen. Er rotiert zwar um die eigene Achse und erfährt so einen Tag-Nacht-Wechsel, allerdings braucht er drei seiner Tage dazu, die Sonne zweimal zu umrunden. Mittags wird es ein bisschen heiß auf der Oberfläche – heißer sogar als in den halb geschmolzenen Tälern der Venus. Dagegen ist es um Mitternacht so kalt wie auf Pluto oder Eris. Mittlerweile wurden hier auch Kraftwerke errichtet, riesige Solarkraftwerke, die in der Umlaufbahn der Sonne schweben und Infrarotenergie zu den Schiffswerften auf den Zwergplaneten des Kuipergürtels befördern, bis weit über Neptun hinaus. Um diese Kraftwerke zu bauen und zu betreiben, benötigt man schwere Elemente, die vor Ort abgebaut werden. Und jemand muss auch diesen Abbau bewerkstelligen, wie man sich leicht vorstellen kann.
    Um sich nicht den extremen Temperaturen aussetzen zu müssen, rollt die Stadt Cinnabar auf einem Schienennetz ständig um den Äquator, der Morgendämmerung hinterher. Auf den Schienen angebrachte Thermoelemente entziehen dem Tageslicht die Wärme und leiten sie in die Kühle der Winternacht um. Die gewonnene Energie dient dazu, die Stadt mit schneller Schrittgeschwindigkeit vorwärtszubefördern, und das jahrein, jahraus. Es gibt noch weitere Nomadenstädte auf Merkur, aber Cinnabar ist, soweit ich weiß, die größte. Außerdem verfügt sie über das von der Ausdehnung her umfassendste Schienennetz im Sonnensystem, auch wenn es nur im Schneckentempo befahren wird.
Sechzehn Spuren erstrecken sich über eine Schneise, die mit sisyphosscher Beharrlichkeit quer durch Krater und Bergzüge geschlagen wurde. Den Boden dieser Schneise bildet geschmolzenes Felsgestein. Für das Abschmelzen haben Megatonnen von Wärmestrahlen gesorgt, die von einem über hundert Kilometer breiten Spiegel in der Umlaufbahn fortwährend nach unten abgegeben werden.
    Ständig mahlend und knirschend, bewegt sich die Stadt entlang
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