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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn
Autoren: Stross Charles
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mich von einer Sexgöttin zu einem Monster mit allzu eng stehenden, winzigen Augen degradiert sah, beschloss ich, die Flucht nach vorn anzutreten.
    Wir alle machen mal Fehler, stimmt’s?

    Alle guten Zeiten haben irgendwann ein Ende, genau wie die schlechten, doch die langweiligen laufen einfach unmerklich aus. Nach meinem Zwiegespräch mit dem Geist des Schiffes schlafe ich, und als ich wieder aufwache, ist Merkur als glühend heiße Scheibe unmittelbar über dem Rand von Lindys Sonnenschirm sichtbar. »Wach auf, Schlafmütze!«, trällert sie. »Zeit, von Bord zu gehen.«
    Ich sehe mich um. Links und rechts von mir fahren Frachtkapseln aus dem Schlaf hoch, verändern ihre Gestalt, bilden Beine,
Wurfhaken und Ionenantriebe aus und bewegen sich auf den Greifarm der High Wire zu. »Wie landen wir denn …?«, will ich fragen, halte aber inne, als ich merke, wie Lindy erschauert.
    »Mit einer Bahn! Toller Spaß!«
    »Mit einer …« In meinem Kopf meldet sich eine Erinnerung an Merkur, nicht meine eigene, sondern die einer verstorbenen Schwester, von deren Leben ich bislang nur Bruchstücke verinnerlicht habe. Stammt sie von Juliette – einer der weniger angepassten Schwestern? Ich kann das Kästchen mit den Seelenchips nur an mich drücken und vor mich hin fluchen, während Lindy sich der Länge nach ausdehnt und so rekonfiguriert, dass sie mich völlig einhüllt. »Wie lange dauert unsere Reise denn noch?«
    »Nicht mehr lange, gar nicht mehr lange!« Und sie lässt den Greifarm der High Wire los.
    Angetrieben von federunterstützten Ejektoren, lösen sich jetzt ringsum Kapseln, Kokons und Module von der High Wire – wie Splitter vom Drehkreuz eines explodierenden Schwungrads. Andere koppeln sich unten vom Greifarm ab. Ein wahrer Schneesturm mechanischen Lebens wirbelt durch die Leere, während das schlaksige Pendlerschiff seinen Ionenantrieb abfeuert und sich langsam zurückzieht. Einen Augenblick lang sehe ich nichts mehr, denn Lindy schirmt mein Gesicht vor dem glühend heißen Sonnenrad ab. Mit Hilfe einer winzigen Steuerrakete schießen wir gleich darauf davon, und ich erkenne Merkur als schimmernde, blanke Halbscheibe vor mir, größer als meine auf Armlänge ausgestreckten Fäuste. »Noch zwei Stunden, dann sind wir da. Juhu!«, quietscht Lindy. »Bist du nervös? Genieß es einfach! Ich kann dafür sorgen, dass du dich entspannst!«
    Mit einer Bahn. In mein Kampf-/Fluchtmodul ist ein archaischer Emulationsmodus eingebaut. Meine Kehle wird so trocken, dass ich schlucken muss. »Ja, bitte massiere mich.« Wenn ich schon zu einem Zeitpunkt sterbe, den ich nicht selbst gewählt habe, dann zumindest mit Glücksgefühlen. Da Lindys Verstand nicht dazu ausreicht, sich in mich hineinzuversetzen, nimmt sie mich direkt
beim Wort. Also werde ich zwar verrückt vor Angst, aber mit völlig entspanntem Kreuz (was zumindest nichts schaden kann) und mit dem Hintern voraus auf Merkur landen.
    Merkurs Fluchtgeschwindigkeit beträgt mehr als vier Kilometer pro Sekunde, und es existiert dort keine nennenswerte Atmosphäre. Wir nähern uns mit etwas höherer als Orbitalgeschwindigkeit, sind nicht mit eigenem Düsenantrieb-Rucksack ausgestattet, und es kann dort unmöglich genügend Greifarme für all die ankommenden Passagiere geben. Aber die Bewohner des Merkur haben eine eigene Lösung gefunden: die äquatoriale Magnetschwebebahn. Sobald man sich dem Planeten nähert, nehmen einen Magneten in ihren stählernen Griff und schleppen einen zu einem Haltepunkt an den Toren von Cinnabar. (Wenn sie einen auch nur um Zentimeter verfehlen, erfährt man genau, wie es ist, als Meteorit zu enden.)
    Die Magnetschwebebahn ist eine blendend helle Linie, die quer durch die von Kratern durchzogene Mondlandschaft des Merkur schneidet. Wir nähern uns dem Planeten bei Tageslicht, sausen jedoch in die Zwielicht-Zone weiter, wobei das sengende Feuer der Sonne unsere Schatten über die unter uns vorbeihuschende graubraune Landschaft wirft. Ich kann nicht zurückblicken. Und selbst wenn ich es könnte, würde Lindys Sonnenschirm mir die Sicht blockieren. Dennoch weiß ich, dass hinter uns in der Einflugschneise schimmernde Kapseln wie an einer Schnur aufgereiht sind, genau wie vor uns. An allen funkeln smaragdgrüne Lämpchen, so dass die Reihe wie eine kostbare, zarte Halskette wirkt.
    Während sich die Landschaft unter mir entfaltet, sackt der Horizont durch und flacht ab. Als wir auf die Magnetspur zustürzen, scheint sich all das noch zu
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