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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers
Autoren: Katja Klink
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draußen, und der Mond beleuchtete eine schlafende Landschaft. Cristino drehte sich mehr als zehn Mal zu dem schlafenden Haus um, bevor sie ihm endgültig den Rücken kehrte und in den Hohlweg trat, der durch den Wald hinunter in die Ebene führte. Zwischen den Bäumen herrschte nachtschwarze Dunkelheit, doch sie kannte den Weg von Kindesbeinen an und fand ihn ohne jede Schwierigkeit. Sie fühlte sich angespannt, als sie so durch 1085
    die Düsternis schritt, aber Angst im eigentlichen Sinn hatte sie nicht. Etwas an der ungewohnten Kleidung verlieh ihr eine nie gekannte Sicherheit. Dann erreichte sie das Ende des Waldes und trat in die freie Ebene hinaus. Silberner Mondglanz lag über den Feldern, schimmerte auf den Nebelschwaden, die sacht über dem kühlen Boden schwebten. Cristino lief schneller jetzt, beflügelt von der Ferne, die auf sie wartete, und hatte nach weniger als einer Viertelstunde die Straße erreicht, die Cavaioun mit Ate verband. Sie holte tief Luft und sah sich um. Vor ihr erstreckte sich die Ebene im geheimnisvollen Schein des Mondes, begrenzt von zwei silbernen Höhen, die zu beiden Seiten in den sternenübersäten Himmel ragten, der Luberoun zur Linken, die Vaucluso zur Rechten. Einen Moment lang stand sie so, verzaubert von der Stille und der Schönheit dieser Landschaft, über der die Sterne funkelten wie ein Baldachin aus Edelsteinen. Sie brauchte sich nicht zu übereilen. Fabiou hatte recht, Frederi würde ihr nicht folgen. Und was Madaleno betraf, so würde es Mittag sein, bis sie ihr Fehlen bemerkte, und Abend, bis sie begriff, dass Cristino nicht irgendwo auf dem Gelände von Castelblanc herumsaß und schmollte. Am anderen Morgen würden die Diener mit einer systematischen Suche beginnen, im Dorf unten, und im Wald hinter dem Haus. Erst am nächsten Abend, wenn auch diese Suche erfolglos geblieben war, würde man vielleicht ihr Zimmer auf den Kopf stellen und die Briefe finden. Und wenn sie dann, am dritten Morgen von jetzt an, die Suche ausdehnten, würde es längst zu spät sein, denn dann war sie schon weit, hinaus über Avignoun, hinaus über Orange, und ihre Spur würde sich in den Weiten Frankreichs verlieren.
    Cristino rückte ihr Bündel auf der Schulter zurecht, wandte sich nach links und begann zu laufen, der Ferne zu.
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EPILOG
    Am 10. November 1558 näherte sich ein Fuhrmann auf seinem Karren von Melun kommend über die schlammverspritzte Straße den Mauern von Paris. Er hatte eine Ladung Töpferwaren aus der Hauptstadt nach Nemours gebracht und war jetzt, am Nachmittag vor St. Martin, auf dem Heimweg. Es war kalt für November, der Matsch auf den Straßen beinahe gefroren, er hatte sich nicht nur in einen, sondern in sage und schreibe drei warme Mäntel gewickelt, Fäustlinge über seine Hände gestreift und die Mütze tief über die Ohren gezogen und trotzte jetzt mit einem vergnügten Pfeifen auf den Lippen der Kälte und dem stetigen Nieselregen, durch den sein stämmiger Gaul unermüdlich vorwärts trottete.
    Kurz vor Vitry-sur-Seine ließ ihn das Winken eines jungen Burschen am Straßenrand an den Zügeln ziehen. Der Knabe war durchnässt vom Regen und grimassierte grinsend unter seiner tropfenden Kappe hervor. «Grüß dich!», schrie er ihm zu. «Du kannst mich nicht etwa nach Paris mitnehmen? – Ich kann zahlen», ergänzte der Bursche sofort und winkte mit einer Münze. Der Fuhrmann, der fünf Kinder hatte und um jedes Zubrot dankbar war, nickte wohlwollend. «Steig auf», sagte er, und behend hatte der Bursche sein Bündel auf die Ladefläche geworfen und war neben ihm auf den Kutschbock geklettert. Der Fuhrmann betrachtete ihn prüfend von der Seite, seine abgetragene, durchnässte Kleidung, die kleine Narbe auf seiner Stirn, in der tropfnass das blonde Haar klebte, das Bündel hinter ihm im Karren, das sonnenverbrannte Gesicht seines Gegenübers. Er musste aus dem Süden kommen. Hier in Paris hatte sich die Sonne schon einige Wochen lang nicht mehr sehen lassen.
    «Was bist du? Handwerksbursche auf Wanderschaft, hm?», fragte er, während er dem Gaul wieder die Zügel gab. 1087
    «Nein, nicht ganz», sagte der Bursche lachend und wischte sich mit dem feuchten Ärmel über das ebenso feuchte Gesicht.
    «Also Student», folgerte der Fuhrmann augenblicklich.
    «Ja. Richtig.» Der Junge nickte.
    «Theologie, was?», mutmaßte der Fuhrmann mit Blick auf das Medaillon, das um den Hals des Burschen hing und eine zierliche Mutter Gottes mit dem Jesuskind in den
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