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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers
Autoren: Katja Klink
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beherbergten. Letztere – Dienstboten – gab es dreizehn auf Castelblanc: einen Haushofmeister, Jannou Peretz, der so alt war, dass man munkelte, er habe Charloun Marigotz noch persönlich gekannt, zwei Kammerzofen und zwei Kammerdiener, den Koch, zwei Küchenmägde, die Kinderfrau, zwei Pferdeknechte, den Waldhüter und den Kutscher. Bis auf eine Kammerzofe gehörten sie alle drei Familien an, die Frederis Großvater um die Jahrhundertwende eingestellt hatte und die seitdem mangels Auswahl stets untereinander geheiratet hatten. Acht Pferde immerhin nannten 26
    die Castelblancs ihr eigen, vier Reit-und vier Zugtiere, zwei entstammten sogar einer relativ edlen Aiser Zucht. Und diesen gesamten Hofstaat beabsichtigte die Familie heute nach Ais zu bewegen.
    Fabiou Kermanach, Baroun de Bèufort, lehnte sich gegen die Schindeln der Dachschräge zurück und atmete tief den Duft des neuen Tages ein, feuchtes Gras und Erde vermischt mit dem Geruch nach Rosmarin und Thymian, und alles getragen vom warmen Wind des nahenden Sommers. Eté que je vois marcher dans la campagne,
    tes ailes d’or levées vers le soleil,
    reveille la nature morte de son someil.
    Sommer, den ich über das Land ziehen sehe,
    deine goldenen Flügel zur Sonne erhoben,
    erwecke die tote Natur aus ihrem Schlaf.
    Oh, vergiss es! Ronsard würde sich totlachen!
    Er rutschte auf dem First der Dachgaube herum, verzweifelt um eine komfortablere Stellung bemüht, nach zwei Stunden wurde so ein Dach ganz schön unbequem. Über ihm flatterte eine Schar Tauben dem Wald zu, der Tag gewann an Kraft. Vielleicht lag es an der Sonette. Vielleicht sollte er etwas anderes schreiben, Balladen, Oden zum Beispiel. Einen Roman. Es musste ja nicht unbedingt eine Sonette sein.
    Vielleicht lag es aber einfach auch an der Sprache. Natürlich konnte er gut französisch. Jeder konnte gut französisch. Zumindest würde niemand das Gegenteil zugeben. Er hatte drei Jahre lang Französischunterricht erhalten und war in der Lage, sich flüssig und nahezu fehlerfrei in dieser Sprache auszudrücken. Besser als Frederi – wenn das auch nicht allzu viel heißen wollte, Frederi war im Bezug auf Sprachen entsetzlich unbegabt – und besser als die meisten Jungen seiner Altersgruppe, die er kannte. Rechnete man seine Schwester Cristino nicht mit, gab es in seiner Umgebung kaum einen Menschen, der besser französisch sprach als er. Cristino besaß eine nahezu übernatürliche Begabung für diese Sprache und hatte sie bereits nach einem Jahr Französisch27
    unterricht fast besser beherrscht als Bruder Antonius, ihr ehemaliger Hauslehrer – doch sie, ein Mädchen, zählte ja ohnehin nicht, und so hätte Fabiou auf seine Kenntnisse der französischen Sprache durchaus stolz sein können. Dennoch, es war etwas anderes, sich in einer Sprache verständlich zu machen, als in ihr Poesie zu erschaffen. Verfluchtes Schicksal, das ihn in eine derart ungünstige Zeit hineingestellt hatte! Zur Zeit der Troubadoure hätte er leben sollen! Richard Coeur de Lion hatte seine gesamte Poesie auf provenzalisch verfasst und sein Ruhm war über ganz Europa hinweg geeilt! Also gut, nicht nur wegen seiner provenzalischen Poesie, aber trotzdem! Doch er lebte natürlich mitten im 16. Jahrhundert, wo kein Mensch mehr auf provenzalisch schrieb! Sein Talent wurde ein Opfer der Moderne, das war es!
    «Fabiou-ou!»
    Fabiou stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus und verdrehte in nahezu akrobatischer Weise die Augen. Mama, natürlich! Gerade jetzt, wo er kurz vor einem künstlerischen Durchbruch stand. Frauen haben einfach keinen Sinn für Poesie!
    «Fabiou-ou, wo bist du, das Essen ist bereit! Fabiou!»
    Essen! Wie kann man in so einem Moment, schwebend zwischen Himmel und Erde, umfangen von einer wiedergeborenen Welt, geborgen im Schoß der majestätischen Berge, nur an Essen denken!
    «Fabiou! Heilige Maria Mutter Gottes, wo ist der Junge nur? Es ist fast sieben! Wir werden es nie schaffen! Fabiou!»
    Fabiou zuckte zusammen, als direkt unter ihm das Fenster der Dachgaube aufgerissen wurde und ein Kopf nach draußen schoss. Madaleno de Castelblanc hatte ihre kastanienbraunen Haare zu einem Knoten aufgesteckt, das hochgeschlossene Reisekleid verbarg ihren schlanken Hals. «Fabiou! Himmel, Junge, wir wollen fahren!», schrie sie in die Weite des Hofs hinunter. Fabiou zwirbelte die Schreibfeder zwischen zwei Fingern. Ais kam ihm wieder in den Sinn. Es hieß ja jetzt eigentlich Aix , nicht mehr Ais, seit das Französische
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