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Die Kälte Des Feuers

Die Kälte Des Feuers

Titel: Die Kälte Des Feuers
Autoren: Dean R. Koontz
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Poe sehr verehrt und sich die makabersten Reime eingeprägt. Morbidität konnte faszinierend sein.
    Das Kreischen verstummte plötzlich. Die anschließende Stille kam einem Segen gleich, aber seltsamerweise erschreckte sie Holly noch mehr als das laute Krächzen.
    »Jimmys Macht wuchs«, fuhr Henry Ironheart mit belegter Stimme fort. Er rutschte im Rollstuhl auf die andere Seite, wobei ihn die geschwächte rechte Körperhälfte behinderte. Zum erstenmal zeigte er Ärger darüber. »Als Sechsjähriger konnte Jim eine auf dem Tisch liegende Münze allein mit der Kraft seiner Gedanken bewegen, sie hin und her schieben, sie auf die Kante stellen. Als Achtjähriger war er imstande, sie in der Luft schweben zu lassen. Als Zehnjähriger vollbrachte er das gleiche Kunststück mit Schallplatten oder Büchsen. Ich habe nie etwas Erstaunlicheres gesehen.«
    Wenn Sie wüßten, wozu Jim als Fünfunddreißigjähriger fähig ist…, dachte Holly.
    »Bei den Vorstellungen zeigten sie so etwas nie«, sagte Henry. »Sie setzten die übliche Nummer fort und nahmen persönliche Gegenstände von Zuschauern entgegen. Jim berichtete dann Dinge, die von den Betreffenden als außerordentlich verblüffend empfunden wurden. Schließlich wollten Jamie und Cara ihr Repertoire mit Levitationen erweitern, aber sie wußten noch nicht, wie sie das fertigbringen sollten, ohne die Wahrheit zu enthüllen. Sie besuchten das Dixie Duck in Atlanta - und damit endete alles.«
    Nein, nicht alles, fuhr Holly durch den Sinn. Damit endete das Licht. Damit begann die Dunkelheit.
    Sie begriff nun, warum ihr die Stille mehr zusetzte als das Kreischen der Vögel. Das Krächzen kam dem Zischen einer brennenden Lunte gleich, die langsam zur Bombe hin brannte. Solange dieses Geräusch erklang, ließ sich die Explosion verhüten.
    »Deshalb glaubte Jim vermutlich, daß es ihm möglich gewesen sein sollte, seine Eltern zu retten«, fügte Henry hinzu. »Allein mit der Kraft des Willens konnte er Einfluß auf feste Gegenstände nehmen, sie bewegen. Er gab sich die Schuld, weil er die Kugeln nicht im Lauf der automatischen Waffe festgehalten, weil er den Abzug nicht irgendwie blockiert und den Wahnsinnigen daran gehindert hatte, Jamie und Cara und all die anderen zu erschießen …«
    »Hätte er das geschafft?«
    »Ja, vielleicht. Aber er war nur ein entsetzter kleiner Junge. Um die Münzen, Schallplatten und Dosen aufsteigen zu lassen, mußte er sich konzentrieren. Und dazu blieb ihm keine Zeit, als der Verrückte schoß.«
    Holly entsann sich an das gräßliche Geräusch: Ra-ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta …
    »Als wir ihn von Atlanta hierherholten, sprach er kaum, nur ab und zu ein Wort. Er mied unseren Blick. Etwas starb in ihm, als seine Eltern ums Leben kamen, und wir konnten die Leere in ihm nicht einmal mit Liebe füllen. Er verlor auch seine besonderen Fähigkeiten. So schien es jedenfalls. Nie wieder erstaunte er uns damit, Objekte zu bewegen, und nach einigen Jahren fiel es manchmal schwer sich vorzustellen, daß er als kleiner Junge so seltsame Dinge hatte bewerkstelligen können.«
    Trotz seiner Fröhlichkeit hatte Henry Ironheart zu Beginn des Gesprächs wie der achtzig Jahre alte Mann ausgesehen, der er war. Jetzt wirkte er noch weitaus älter.
    »Jim verhielt sich so seltsam nach der Tragödie in Atlanta«, sagte Henry. »Er wurde unnahbar, und Zorn brodelte in ihm … Manchmal fürchtete ich mich, obwohl ich ihn liebte. Und später … Gott möge mir verzeihen. Ich dachte, er …«
    »Ich weiß«, warf Holly ein.
    Es zuckte in Henrys schlaffem Gesicht, und er bedachte Holly mit einem scharfen Blick.
    »Ihre Frau«, sagte sie. »Lena. Die Umstände ihres Todes.«
    »Sie wissen viel«, erwiderte der alte Mann, und seine Stimme klang noch etwas undeutlicher.
    »Zuviel«, bestätigte Holly. »Eigentlich komisch. Mein ganzes Leben lang habe ich zuwenig gewußt.«
    Henry sah wieder auf seine fleckigen Hände hinab. »Wie konnte ich glauben, daß ein zehnjähriger - wenn auch verhaltensgestörter - Knabe in der Lage sein sollte, Lena die Treppe in der Mühle hinunterzustoßen? Immerhin liebte er sie, von ganzem Herzen. Erst viele Jahre später wurde mir klar, wie grausam ich zu ihm gewesen bin, wie gefühllos und dumm. Zu jener Zeit gab er mir nicht mehr die Chance, mich zu entschuldigen für das, was ich getan und … gedacht hatte. Er verließ die Farm, um das College zu besuchen - und kehrte nie zurück. Dreizehn Jahre lang blieb er fern, bis ich den Schlaganfall
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