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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere
Autoren: Rainer M. Schroeder
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verhört zu haben.
    »Ja, Sie haben schon richtig gehört! Miss Winslow hat soeben aus gesagt, dass sie sich bedauerlicherweise bei der Identifizierung des Einbrechers anhand der ihr vorgelegten Fotos geirrt hat. Sie, Mister Slade, seien jedenfalls nicht der Einbrecher gewesen, der ihr in jener Nacht in die Arme gelaufen sei. Dessen sei sie sich absolut sicher, wo sie Ihnen ja nun Auge in Auge gegenüberstehe. Begreifen Sie, was das für den weiteren Verlauf des Prozesses bedeutet?« Er gab die Antwort gleich selber. »Sogar wenn Mister Busby bei seiner Aussage bleibt, steht die seine gegen die der Zofe. Mit ein wenig Glück ist ein Freispruch möglich!«
    Es kam erst gar nicht dazu, dass Aussage gegen Aussage stand. Denn auch der Stallknecht George Busby beteuerte wenig später, dass der Mann auf der Anklagebank namens Horatio Slade nicht mit jenem Mann identisch sei, den er im Haus seiner Herrschaft beim Einbruch überrascht habe. Es müsse da eine Verwechslung bei der Vorlage der Fotos bei Scotland Yard gegeben haben. Wie das habe geschehen können, sei ihm ebenso ein Rätsel wie Miss Winslow. Und nein, es habe nichts damit zu tun, dass sie beide seit Kurzem verlobt seien und in Bälde zu heiraten gedächten. Und ja, das nehme er ebenso wie Amelia Winslow auf seinen Eid, hohes Gericht!
    Kurz darauf verließ Horatio Slade das Gerichtsgebäude in der Great Marlborough Street als freier Mann und mit einem heiteren Lä cheln auf dem Gesicht. Er wusste zwar nicht recht, was er davon hal ten sollte, dass die Zofe und der Stallknecht ihn nicht als jenen Mann wiedererkannt hatten, den sie im Haus von Sir Oliver auf frischer Tat ertappt hatten. Aber letztlich interessierte es ihn auch nicht. Er nahm die Dinge so, wie sie kamen. Zwischen den Widrigkeiten und Glücksfällen des Lebens eine irgendwie geartete innere Verbindung zu suchen und hinter alldem einen tieferen Sinn zu finden, diesen Unfug hatte er sich schon in jungen Jahren abgewöhnt.
    Ein livrierter Bote mittleren Alters kam ihm entgegen, gerade als er die Straße überqueren wollte. Er trat ihm in den Weg und sprach ihn respektvoll an. »Entschuldigen Sie, Sir. Habe ich es mit Mister Hora tio Slade zu tun?«
    »Ja, das haben Sie in der Tat. Was gibt es?«
    »Ich habe den Auftrag, Ihnen diesen Brief hier auszuhändigen, wenn Sie aus dem Gerichtsgebäude kommen, Sir«, teilte ihm der Bo te mit ausgesuchter Höflichkeit mit und hielt ihm einen Umschlag aus schwerem cremefarbenem Büttenpapier hin.
    Verwundert nahm Horatio Slade den Brief entgegen und suchte vergeblich auf der Rückseite nach dem Namen eines Absenders.
    »Zudem soll ich Ihnen noch etwas mündlich ausrichten«, fuhr der Bote fort. »Zwei Sätze sind mir aufgetragen worden, Sir. Der erste lautet: ›Das Wunder ist nicht einfach so vom Himmel gefallen!‹ Und der zweite: ›Aus freiem Flug auf Adlerschwingen kann schnell ein Le ben mit gestutzten Flügeln in einem engen Käfig werden.‹ Fragen Sie bitte nicht, was das bedeuten soll, Sir. Aber mein Auftraggeber mein te, dass Sie es schon wissen werden.« Mit diesen Worten deutete er eine Verbeugung an, wandte sich auf dem Absatz um und entfernte sich schnellen Schrittes.
    Verdattert und mit dem Brief in der Hand, sah Horatio Slade ihm nach. Er verstand die Botschaft sehr wohl. So schwer war sie, nach der unglaublichen Wendung der Ereignisse vorhin im Gerichtssaal, auch nicht zu verstehen. Doch er hatte nicht den Schimmer einer Ah nung, wer die Zofe und den Stallknecht zum Meineid gebracht hat te – und warum.
    Zu Beginn seines Prozesses war Horatio Slade die Ruhe und Gelas senheit in Person gewesen. Doch nun packte ihn Unruhe, ja fast so gar eine Art von Beklemmung, als er unter den drei Glockenschlägen von Big Ben den Brief aufriss.

4
    K aum hatte sie sich in ihrem eng geschnittenen Bühnenkostüm mit dem unerhört kurzen Glitterröckchen auf das fingerdicke Drahtseil hinausgewagt und es unter ihren hauchdünnen Artistenschuhen in ein seitliches Pendeln versetzt, als sie instinktiv spürte, dass bei der Vorbereitung zu dieser Vorstellung irgendetwas entsetzlich falsch gelaufen sein musste!
    Im ersten Moment schien alles wie immer zu sein. Am anderen En de des hin und her pendelnden Seils drehte sich wie gewohnt die große Holzscheibe, die mit schwarz-weißen Zielringen bemalt war und am äußeren, pyrotechnisch präparierten Rand lichterloh in Flammen stand. Auf diese brennende, sich rasch drehende Scheibe hatten zwei Gehilfen der Varietétruppe vor
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