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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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in Ohnmacht. Wenn du mich fragst, glaubte sie, es wäre der andere.«
    »O mein Gott. Der Ärmste.«
    »Das hat sie davon, dass sie auf ihren Mann hört. Ich sage dir, sie haben ihn zu früh geholt.«
    »Da dürfen wir uns nicht einmischen, Otilia. Wir haben zu tun, was man uns sagt.«
    »Ich mische mich ja gar nicht ein. Aber das Kind … Cristóbal!« So rief sie nun laut: »Komm essen!«
    Da stieß ich die Tür auf und einen Schrei aus, wie geplant. Sie taten so, als würden sie sich furchtbar erschrecken, zitterten und verdrehten die Augen, um mich glücklich zu machen.
    An diesem Abend brachte mich Fernando ins Bett und las mir eine Gutenachtgeschichte vor. Er tat es mit Begeisterung, aber er konnte es nicht gut, das weiß ich noch. Er las zu laut und mochte es nicht, wenn man ihn mit Fragen unterbrach. Statt dir beim Einschlafen zu helfen, machte er dich also nur wacher. Irgendwann schloss ich die Augen, damit er mich in Ruhe ließ. Er knipste das Licht aus und ging. Im Dunkeln, beim Einschlafen, kam mir ein Gedanke, der dann meine Träume verseuchte: Ich bin nicht der erste Cristóbal.
    Am Morgen trat mir die Idee ganz deutlich in den Sinn, und ich sagte mir, das hast du nicht nur geträumt. Aber diese Entdeckung war wohl zu viel für ein Kind von sieben Jahren, und ich begann mir eine Geschichte zurechtzubasteln, um mir das Ganze zu erklären. Ich war nicht der erste Junge, den Fernando und Maribel adoptiert hatten. Es hatte vorher einen anderen Cristóbal gegeben, aber weil er sie nicht lieb genug gehabt hatte, hatten sie ihn zurück ins Waisenhaus gebracht. Wer war es wohl? Wenn ich in diesem Haus bleiben wollte und wenn ich wollte, dass Bundó eines Tages auch käme, dann musste ich mich wie ein guter Sohn benehmen. Musste liebenswert sein, so, wie die Nonnen es mir gesagt hatten. Von diesem Wunsch beherrscht, blühte in mir auch das vage Schuldgefühl gegenüber der Mutter wieder auf. Ihre bloße Anwesenheit genügte, damit ich glaubte, ich verdiente sie nicht. Wenn ich im Haus auf sie stieß – immer war sie allein und still, in Gedanken versunken –, gab ich mir alle Mühe, sie fröhlich zu machen. Ich sang ihr Lieder, die wir im Heim gelernt hatten, oder bat sie, mit mir zu spielen, oder stellte ihr irgendwelche Fragen, um ihr Schweigen zu überwinden. Manchmal brachte ich sie tatsächlich zum Mitsingen oder entlockte ihr sogar ein echtes Lachen, und dann fiel diese unsichtbare Last von ihr ab, und ich fühlte mich geborgen und beschützt von der schönsten Frau, die ich je gesehen hatte.
    »Was hast du, Mama?«, fragte ich sie auf Katalanisch, während ich ihr durchs rote Haar strich, als hoffte ich, mir damit die Fingerkuppen färben zu können.
    »Nichts«, antwortete sie, auch auf Katalanisch, ohne es zu merken. »Das geht schon vorbei, wirklich.«
    Von nun an verwandelte sich jede Neuigkeit in einen Hinweis, der mir helfen konnte, den ersten Cristóbal ausfindig zu machen. Mit Otilia übte ich Schönschrift und hatte gelernt, meinen neuen Namen zu schreiben und zu lesen. Eines Morgens beim Anziehen fiel mir auf, dass meine sämtliche Kleidung innen Etiketten mit farbigen gestickten Buchstaben trug. Ich entzifferte sie: Cristóbal Soldevila. Im Heim erbten wir immer die Wäsche der Größeren, abgewetzt und entfärbt, hier aber war alles meins. Ich fragte Otilia, warum da mein Name drinstand, und sie sagte, das sei für bald, wenn ich zur Schule ginge, damit es dort keine Verwechslungen gäbe. Kurz darauf stellte ich fest, dass sie, anstatt den Mantel zu flicken – in den der erste Cristóbal das Loch gerissen haben musste –, einen neuen für mich gekauft und in den Kragen das Schildchen mit meinem Namen genäht hatten.
    An einem anderen Nachmittag, gut eine Woche nachdem ich im Hause Soldevila angekommen war, stöberte ich in einem Schrank, in den ich bisher noch keinen Blick geworfen hatte, und fand darin eine Kiste voller Musikinstrumente. Die meisten waren aus Plastik, Spielzeuge, mit denen die Kinder herausfinden sollten, ob sie musikalisches Talent hatten oder nicht, während die Eltern sich fluchend die Ohren zuhielten. Ich freute mich so sehr, dass ich sie alle ausprobieren wollte, eins nach dem anderen. Auf jedem spielte ich eine halbe Minute, um zu hören, wie es klang, dann ordnete ich sie auf dem Boden an wie ein Orchester. Ich schüttelte Maracas, schlug eine Flamencogitarre an, eine Trommel, ein Xylofon. Tief unten in der Kiste entdeckte ich eine kanariengelbe Trompete und blies
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