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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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bei der Spedition, sagte immer: Das Wichtige sind die Werktage, das Wochenende ist bloß ein Trinkgeld zum Verschleudern. Nach dem Fieberrausch jenes Sonntags zeigte mir der Montag die andere Seite der neuen Wirklichkeit. Heute denke ich, wir hätten zu dritt erst einmal eine Woche Urlaub machen sollen, an einem ruhigen Ort, um uns aneinander zu gewöhnen. Stattdessen aber hatten Maribel und Fernando es eilig, zum Alltag zurückzukehren. In einer reichen Familie in Bonanova bedeutete das, dass ich viel mehr Zeit mit den Dienstmädchen verbrachte als mit den Eltern. Fernando arbeitete den ganzen Tag und kam oft erst heim, wenn ich schon schlief. Die Mutter verschwand stundenlang in irgendeinem Zimmer, um, so sagte sie, den Haushalt zu machen. Seltsamerweise musste ich fürs Erste nicht zur Schule gehen, also lebte ich wie in den Ferien. Otilia passte auf mich auf, und ich hatte so viel Spielzeug, dass ich mich nie langweilte und auch unter dem Alleinsein nicht litt.
    An einem Nachmittag, drei oder vier Tage nach meiner Ankunft, ging Otilia mit mir in den Garten hinterm Haus. Von meinem Zimmerfenster aus hatte ich gesehen, dass da eine Schaukel stand, und ich wollte sie unbedingt ausprobieren. Nach dem Vesper fing ich davon an und ließ nicht locker, bis ich Otilia so weit hatte, mit mir hinzugehen.
    »Frag Mama«, sagte sie mir. »Wenn sie es dir erlaubt …«
    Sofort rannte ich los und suchte die Mutter im ganzen Haus. Ich rief nach ihr, öffnete Türen und blickte in Zimmer, von denen ich noch nichts gewusst hatte. Das Bücherzimmer, das Zeichenzimmer, das Gästezimmer. Ich fand Maribel nirgends. Otilia war mir auf den Fersen, aber sie holte mich nicht ein. Das Ganze wurde zu einem Spiel. Fang mich doch. In den Winkeln und toten Gängen der Casa de la Caritat hatte ich alle Tricks gelernt. Ich lenkte sie ab und rannte an ihr vorbei, in die Gegenrichtung. Dann öffnete ich die Tür zu einem engen Raum, einer Art Nähzimmer, und lief geradewegs in den Rock der Mutter. Ich wich zurück. Sie sah mich an wie einen Einbrecher, ein wildes Tier, ein Gespenst, und stieß einen panischen Schrei aus. Ich fing an zu lachen, weil ich sie erschreckt hatte, ein kindlicher Triumph – ha, ha! ha, ha! –, aber da wurde ihre Miene noch finsterer. Zum Glück tauchte in dem Moment Otilia auf.
    »Cristóbal? Cristóbal, komm her! Verzeihung, Señora.«
    »Cristóbal? Welcher Cristóbal?« Die Mutter sah mich ungläubig an. »Das kann nicht sein …«
    Otilia nahm mich mit, und ohne noch um Erlaubnis zu bitten, gingen wir in den Garten. Es dämmerte schon, ein kalter Wind war aufgekommen, also zog sie mir den Mantel an. Ich schaukelte und schaukelte, so lange, bis mir die Arme wehtaten. Otilia gab mir immer mehr Schwung, und mit dem Schaukeln verflog mir allmählich etwas, was ich selbst nicht recht verstand – ein Schuldgefühl, weil die Mutter meinetwegen vor Angst gezittert hatte.
    Zurück in der Wohnung, schälte ich mich aus dem Mantel. Als ich an einem der dicken Ärmel zog, merkte ich, dass er ein Loch am Ellenbogen hatte. Ich war das nicht gewesen, auf keinen Fall. Meine erste Reaktion war, es mit der Hand zu verdecken, denn wenn wir uns im Heim ein Loch in die Kleidung rissen, zogen uns die Nonnen die Ohren lang und sagten, das müssten wir selber stopfen, als ob wir Mädchen wären. Aber dann fiel mir ein, dass ich ja nichts mehr zu befürchten hatte, und ich zeigte es Otilia, steckte sogar den Finger hindurch.
    »Das war ich nicht.«
    »Ich weiß, Liebling, mach dir keine Sorgen. Das war sicher schon vorher drin. Wir flicken es dir und fertig.«
    »Aber wer hat es denn gemacht?«
    Sie zögerte einen Moment.
    »Niemand, mein Liebchen. Das ist von ganz alleine gekommen.«
    Tomasa, das andere Dienstmädchen, war auch fürs Kochen zuständig und rief uns, mein Abendessen sei fertig. Otilia ging mit mir zum Bad, um mir die Hände mit Seife zu waschen. Sie wollte mit hineingehen, aber ich verbot es ihr, weil ich groß sei und es alleine könne. In den vier Tagen hatte ich schon gelernt, Befehle zu erteilen wie ein kleiner Tyrann. Ich wusch mir also die Hände und lief dann in die Küche, wo Otilia mich erwartete. Die Tür war angelehnt, und ich schlich mich lautlos heran. Ich wollte die Dienstmädchen erschrecken, so wie vorher die Mutter. Aber als ich gerade die Hand an die Tür legte, merkte ich, dass sie miteinander tuschelten. Also lauschte ich.
    »… Und was hat sie gemacht?«
    »Nichts, sie war völlig verdutzt. Fiel fast
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