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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Autoren: Jordi Punti
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kräftig hinein, doch es erklang nur ein hohles Fiepen. Ich versuchte es noch einmal, mit geschlossenen Augen und aufgepumpten Wangen, und alles, was ich erreichte, war, dass mir der Kopf schwirrte. Also inspizierte ich das lange, enge Rohr der Trompete und ertastete etwas darin. Mit den Fingerspitzen zog ich ein eingerolltes Papier hervor. Ich ließ das Instrument liegen und entfaltete den Zettel, der sich aber sogleich wieder zusammenrollte. Beim zweiten Mal hielt ich ihn mit beiden Händen fest und sah erschrocken, dass es sich um eine Kinderzeichnung handelte.
    Gebt einem siebenjährigen Kind ein paar Buntstifte und sagt ihm, es soll seine Familie malen. Das Ergebnis wird der Zeichnung, die ich fand, sehr ähneln. Die Mutter hatte Haare von einem flammenden Orange, dieselbe Farbe wie die Sonne, und der Vater winkte mit einer übergroßen Hand, während ihm die andere mickrig am Körper herabhing. Das Kind – der erste Cristóbal – hatte sich selbst etwas kleiner zwischen die beiden gemalt. Im Hintergrund stand ein Haus mit einem Baum und einer Schaukel. Aus dem Schornstein stieg eine weiße Rauchwolke.
    Als ich begriff, dass diese Zeichnung von meinem Vorgänger stammte, rollte ich sie hastig wieder ein und steckte sie zurück in die Trompete. Nun wusste ich, ich musste ein noch besseres Bild malen und es den Eltern zeigen. Ich rief Otilia und fragte sie, wo die Buntstifte seien. Ich wollte Fernando und Maribel malen.
    Ich bin ein schlechter Zeichner, immer gewesen, und war es auch schon als Siebenjähriger. Man kann auch nicht behaupten, dass sie es uns in der Casa de la Caritat gut beigebracht hätten. Als ich mit dem Porträt meiner neuen Eltern fertig war, verglich ich es mit dem Bild des ersten Cristóbal. Kein Zweifel, meins war viel schlechter, eine vulgäre und hässliche Imitation. Ich riss das Blatt vom Block, zerknüllte es und begann noch einmal von vorne. Fünf Minuten später rief Otilia mich zum Abendessen, und ich musste meine Arbeit liegen lassen.
    Während ich in der Küche aß, kehrte Fernando aus dem Büro heim und gab mir einen Kuss. An den Tagen, an denen er nicht so spät von der Arbeit kam, mochte es die Mutter, wenn ich mich mit ihnen an den Tisch setzte oder im Esszimmer spielte, während sie aßen. Sie wollte mich in ihrer Nähe haben, und ich tat ihr den Gefallen gerne. Zudem machte es mir Spaß, zuzuschauen, wie Fernando mit einer Hand aß. Die andere war bei ihm wohl von Geburt an gelähmt – ich weiß es nicht –, und er ging sehr geschickt mit dem Besteck um. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihm half, das hatte ich schon gemerkt. Verzehrte er ein Stück Fleisch, immer gekocht, damit es schön zart war, so schnitt er es zuerst klein, und zwar mit einer sehr scharfen Schere, dann nahm er die Bissen auf die Gabel, so wie wir alle. An dem Abend nun fragte er mich, womit ich mich den Tag über beschäftigt hätte. Ich wusste nicht, was ich ihm erzählen sollte. Ich hatte so viele Dinge gemacht, dass sie mir in der Erinnerung durcheinandergerieten. Otilia, die gerade die Teller wieder einsammelte, antwortete für mich: »Was hast du gemacht, Cristóbal? Weißt du es nicht mehr? Nun, er hat gemalt, Señor. Er hat Papa und Mama gemalt.«
    »Aha, hm«, machte Fernando, »Papa und Mama! Mal sehen, mal sehen. Magst du uns das Bild mal zeigen?«
    Ich war zu sehr darauf aus, ihnen zu gefallen und sie glücklich zu machen. Also lief ich in mein Zimmer, und ohne einen Moment zu zögern, brachte ich ihnen das Bild des ersten Cristóbal, das besser war als mein eigenes.
    Die Mutter hatte während der ganzen Mahlzeit kaum ein Wort gesprochen. Ich beobachtete sie die ganze Zeit aus dem Augenwinkel, denn ich wusste ja, dass sie etwas verbarg. Diese Art, sich von der Welt zurückzuziehen, beunruhigte mich. Es war meine Schuld. Seit unserer gemeinsamen Ankunft in dem Haus war ihr Gesicht immer weiter zerfallen. Es war, als würde ich es bemerken – und hätte die Pflicht, es zu verstehen – und Fernando nicht. An diesem Abend wirkte ihre Haut gegen das Rot ihres Haars noch bleicher als sonst. Ich erinnere mich sehr gut daran, denn es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Ich trat zu ihr und gab ihr das Bild.
    »Wie schön«, sagte sie, während sie es auf dem Tisch auseinanderfaltete, doch es verging keine Sekunde, bis sie erkannte, dass es das Bild des anderen Cristóbal war. Mütter wissen so etwas. Sie fuhr entsetzt zurück und stieß ihr Weinglas um. Sie schloss die Augen, es schien, als
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