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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin
Autoren: Sandra Lüpkes
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die Beine zu kommen, aber ein Knoten hatte ihm das Knie nach hinten gebogen. Er konnte sich nicht mehr rühren, und je mehr er zappelte, desto auswegloser wurde das Netz.
    »Nein, ich helfe dir nicht!«, rief sie und ging zu den Dünen. Sie stieg den alten Weg hinauf, den sie mit Pastor Altmann so oft gegangen war. Dort ließ sie sich im Sand nieder, als sei Sommer und dies einer ihrer Erkundungsstreifzüge. Das Festland lag in der Dunkelheit verschwunden, hier gab es nur die Insel. Die Bill im Westen, das Loog im Osten. Der Hammrich würde nun bereits vollkommen überschwemmt sein. Neue Wellen rollten heran, immer höher, immer gewaltiger. Noch zwei oder drei Stunden lief das Wasser auf, und wenn der Sturm aus Nordwest nicht nachließ, würde es weiterhin so wild auf die Insel zutreiben, ohne Gnade. Wie lange die Buhnen halten würden, wusste Maikea nicht. Denn in dieser Nacht hatte das Meer alles in seiner Gewalt.

TEIL 4

     
    Frühjahr 1751
     

 
     
    J an liebte den weißen Friesenhengst, den sein Vater ihm zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ein edles Tier, mit dem er schon seit zwei Jahren jeden Tag die Insel umrundete. Nun gehörte er ihm.
    »Du bist jetzt ein erwachsener Mann, deshalb brauchst du auch ein eigenes Pferd«, hatte Geert heute Morgen zu ihm gesagt. Und man sah ihm den Stolz an, seinem Sohn ein solches Geschenk machen zu können. Er hatte sich nur langsam von seiner Verletzung erholen können. In der Zeit seit jener schrecklichen Nacht war ihm der Weiße Knecht hilfreich zur Hand gegangen, hatte ihm Kartoffeln in seinen sandigen Acker gesetzt, dieses neuartige Gemüse, das auf der Insel prächtig gedieh und daher gute Gewinne auf den Märkten des Festlandes erzielte. Inzwischen arbeiteten die beiden Männer meist gemeinsam, während Jans Mutter täglich am Strand unterwegs war und die Insulaner zu Fleiß und Vernunft erziehen wollte. Jan dachte gern an die aufregende und doch schöne Zeit seiner Kindheit zurück. Und nun war er ein erwachsener Mann. Was immer das auch bedeuten mochte.
    Der Ritt an diesem sonnigen Tag war also etwas Besonderes. Im Trab hatte er gerade die südliche Billspitze passiert. Nun ließ er den Schimmel im Schritt laufen und genoss die Stille ringsherum. In einiger Entfernung erkannte er die Untiefen von Memmert – der kleinen Insel konnte man beinahe beim Wachsen zusehen. Ein Segel am Horizont verriet, dass der Inselvogt Eyke wieder einmal mit voll beladener Schaluppe vom Festland zurückkehrte.
    Also würde es gleich ein Fest an der Wattseite geben. Jan musste aufpassen, nicht die Zeit zu vergessen, denn seine Mutter hatte ihn gebeten, nicht zu spät zum Abendessen zu kommen. Sie müsse mit ihm reden, hatte sie mit ernster Miene gesagt. Und dieser Satz saß ihm nun schon den ganzen Tag quer im Magen. Er befürchtete, sie wollte ihm nun endlich etwas über seinen Vater erzählen, seinen leiblichen Vater, dessen Namen und Herkunft sie bislang stets verheimlicht hatte. Damals, als dieser unheimliche Mann in der Sturmnacht aufgetaucht war, um ihn zu töten, hatte er unbedingt wissen wollen, welches Geheimnis seine Abstammung umgab. Doch der Fremde war im Sturm ums Leben gekommen, man hatte seine Leiche am nächsten Morgen am anderen Ende der Insel, in einem Netz verfangen, entdeckt. Und all die Jahre hatte Jan nicht mehr nach seiner Herkunft gefragt, aus Angst, die Antwort könne vielleicht grausam oder beängstigend sein. Was, wenn es sein Leben aus den Fugen brachte?
    Er liebte Geert wie seinen leiblichen Vater, mehr konnte ein Sohn seinen Vater nicht lieben. Und im Weißen Knecht sah Jan so etwas wie einen väterlichen Freund, der viel von der Welt gesehen hatte und sich gern die Zeit nahm, darüber zu reden. Manchmal überlegte Jan, ob er vielleicht sein Vater war. Denn dass zwischen ihm und seiner Mutter etwas Seltsames vorging, blieb selbst ihm nicht verborgen. Doch wie ließe sich die ehrliche Freundschaft zwischen Geert und dem Weißen Knecht dann erklären? Nein, es musste um etwas anderes gehen.
    Aus der Entfernung konnte Jan die schwarzen Linien der Buhnen erkennen. Er trieb sein Pferd an, denn es gab nichts Herrlicheres, als mit diesem starken Tier an einem sonnigen Tag wie heute über die versandeten Hürden zu springen. Viel war von dem Bauwerk seiner Mutter nicht mehr zu erkennen. Die Pfähle hatten wie berechnet die Meeresströmungen verändert, sodass sich die Insel an dieser Stelle merklich ausbreiten konnte. Bald schon wären sie vollständig
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