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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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Jahren, 209 Erwachsene im Erwerbsalter, 73 Rentner. Von den 209 Erwerbsfähigen waren 44 ohne Arbeit, von den Rentnern 60. Laut ärztlicher Statistik gab es 25 Invaliden (also Behinderte oder Berufsunfähige). Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen liegt bei 84,42 Jahren, die der Männer bei 60,96 Jahren.
    Nach Abschluss des Internats in Narjan-Mar wollen die Kolgujewer Jugendlichen nach Möglichkeit nicht auf die Insel zurück, sind aber wegen der hohen Mietpreise in der Stadt (man bräuchte sofort eine gutbezahlte Stellung) in der Regel zur Rückkehr gezwungen. 1994 galt das als normal (die Insel wurde sogar als Zuflucht vor den »irren« Problemen der Welt draußen empfunden), heute dagegen wird es als eine Art Katastrophe erlebt: es verbaut dir die Möglichkeit, in »das große Leben« hinauszugehen, verurteilt dich zu einem Dasein in insulärer Abgeschlossenheit und zu so unqualifizierter wie schlecht bezahlter Arbeit. Begriffe wie Gemeinschaft oder Ältestenversammlung sind erodiert. Die jungen Nenzen kennen ihre Geschichte nicht, kennen nicht ihre familiären Wurzeln, nicht das Weideland ihres Klans: viele waren praktisch noch nie in der Tundra. Sie leben tagaus, tagein im Dorf oder in dessen unmittelbarer Umgebung, so dass kaum noch einer etwas von Jagd und Renhaltung versteht. Die jungen Renhirten fahren so gut wie nie mit dem Schlitten, sondern stets mit dem Buran (einem Schneemobil): um mit dem Gespann zu fahren, braucht man Zugtiere, und die gibt es immer weniger.
    Unverändert geblieben ist auch die Armut. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt in Bugrino 3361,4 Rubel (also 100,3 Dollar), während das Lebensminimum für Menschen des Archangelsker Gebiets mit 5711 Rubel (sprich 190,3 Dollar) angesetzt wird. Die Abgeschnittenheit der Insel, die unbezahlbaren Hubschrauberpreise und die Unterversorgung Bugrinos mit Grundgütern vom Festland (Lebensmittel, Hausrat, Baumaterial etc.) haben zur Folge, dass die Mehrheit der Dorfbewohner kaum überleben kann. Die meisten geben an, das ihnen zur Verfügung stehende Geld reiche nicht oder gerade so für Lebensmittel.
    Ein augenfälliges Indiz für die veränderte Haltung gegenüber der Insel ist die Tatsache, dass so gut wie alle Russen Kolgujew verlassen haben. Die »Romantik des Hohen Nordens«, die in den 1960er Jahren Verwaltungskader, Meteorologen und Ärzte in die Polargebiete lockte, besitzt keine Zugkraft mehr: die »Köpfe« in der Verwaltung wechseln beinah jährlich, wie auch die Ärzte, die nach Abschluss des Studiums über die »Arbeitsplatzzuteilung« auf der Insel landen. Geblieben sind nur ganz wenige Familien, nämlich diejenigen, die wissen, dass auf dem Festland niemand sie erwartet und sie dort keine Wohnung usw. haben (so zum Beispiel die Folmers: Sinaida Folmer, Feldscher in Bugrino, und ihr bereits im Ruhestand befindlicher Mann sowie ihr Sohn, der Invalide ist).
Das Dorf Bugrino
.
    In den vergangenen achtzehn Jahren hat Bugrino
nicht ein
Problem gelöst. Weder das der Abfallbeseitigung (der Müll wird unverändert »über den Abhang« entsorgt) noch jenes des Abtransports der Unmengen von überall vor sich hin rostendem Metallschrott und auch nicht das Problem der Trinkwasserversorgung. Die Herbststürme haben die Seestraße, einst »Paradestraße« des – seinerzeit auf dem »festen« Grund der Steilküste und nicht auf Tundraboden errichteten – Ortes, so ruiniert, dass sie heute in zwei Teile auseinandergebrochen ist. Aus sechs der Baracken mussten die Bewohner in eine weiter in der Tundra neu erbaute »vierte Reihe« umgesiedelt werden. Am südlichen Dorfende, das noch besser in Schuss ist, stehen auf dem Bachufer fünf neue Häuser, auch gibt es endlich eine modern ausgestattete öffentliche Banja mit Sauna und Duschen. Das Geschäft ist »privatisiert« und gehört einem der Inselnatschalniks, der sich im Übrigen auch gleich eine Wohnung und das halbe Hotel »privatisiert« hat (er selbst lebt in Archangelsk). Eines der restlichen drei Zimmer wird normalerweise für den Einsatzarzt freigehalten, da für ihn kein anderer Wohnraum zur Verfügung steht. Neben dem Hotel befindet sich nach ihrem Umzug aus dem havarierten Seestraßen-Domizil jetzt auch Satellitenkommunikation: in drei sogenannten Polarwaggons, kleinen Wohnwaggons ohne Räder. Und last not least ist Bugrino inzwischen ans Internet angeschlossen! Im Klub gibt es eine Bibliothek und einen Sportraum, in dem Discoabende stattfinden.
    Das größte Problem
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