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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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Bohrarbeiter an der Pestschanka werden wollte und die Verantwortlichen vor Ort nichts dagegen hätten (was wenig wahrscheinlich ist), so müsste er der Papiere wegen nach Murmansk fahren – dem stünden dann finanzielle, aber auch psychologische Faktoren entgegen.
    Die aktiven jungen Leute wollen von der Insel fort. Dafür gibt es zwei Wege: entweder man bleibt in der Armee, oder man sucht sich Arbeit auf dem Festland. Aber das ist schwierig, weil die Kolgujewer wenig Kontakte »nach drüben« haben, sie verfügen kaum über Kanäle, die sie »hinaus in die Welt« führen könnten. Und so kehren viele nach den ersten erfolglosen Versuchen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, beschämt und mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, auf die Insel zurück.
    Die von der Oktoberrevolution ausgelösten Veränderungen haben die traditionellen Beziehungen der autochthonen Bevölkerung zu den russischen Kaufleuten und den norwegischen Fangmännern gekappt.
    Bereits in den 1920er Jahren waren die Kolgujewer Nenzen auf Gedeih und Verderb vom staatlichen Monopol abhängig. Mit den Jahren verloren sie dann die materielle Grundlage für ein autonomes Dasein – privaten Besitz – und auch die nötigen Kenntnisse, um autark zu wirtschaften.
    Aber die sozialistische Kolonisierung hat den Inselbewohnern auch neue Möglichkeiten eröffnet. Die 1960er Jahre waren für die Dörfer jenseits des Polarkreises eindeutig eine Zeit der Blüte. Damals wurde Bugrino zum richtigen Dorf ausgebaut, die Menschen erhielten ein festes, vom Arbeitsertrag unabhängiges Einkommen, »gute« Verwaltungskader, Zugang zu den Errungenschaften der Zivilisation und die Gewissheit, dass ihr Leben und das ihrer Kinder sich verbessern müsse und verbessern werde.
    Am Ende dieser Phase wurden alle nicht unmittelbar mit der Rentierhaltung zusammenhängenden Produktionsbereiche, die mit Mühen und Kosten verbunden waren (der Fischfang, die Verarbeitung von Meerestierhäuten, die Pelztierfarm usw.) als »perspektivlos« liquidiert. Und ebenso begannen die traditionellen Tätigkeiten auszusterben: die Jagd auf Meeressäuger und die Polarfuchsjagd, das Nähen der traditionellen Kleidung, die Herstellung von Rengeschirr. Die monoökonomische Spezialisierung war just gerade zu dem Zeitpunkt Wirklichkeit geworden, als das System der sozialistischen Planwirtschaft zusammenbrach und die Abnehmer von Renfleisch, die bis dahin durch strikte Planvorgaben zur Abnahme bestimmter Mengen gezwungen waren, freie Hand bekamen – wodurch Kolgujew auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig wurde.
    Aus Unselbständigkeit, Armut und Trunksucht, aber auch fehlendem Willen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, steht die Mehrzahl der Bevölkerung den »Veränderungen« hilflos gegenüber und befindet sich wortwörtlich am Rande des Untergangs.
    Dieser Teil der Kolgujewer steht vor dem Dilemma, entweder binnen kurzem den eigenen Lebensunterhalt »wie früher« zu erwirtschaften oder der Insel den Rücken zu kehren, das heißt: als Aussaat für ein neues Leben die Kinder aufs Festland zu schicken …
    Ein anderer Teil der indigenen Bevölkerung – diejenigen, die sich am besten an das moderne Leben angepasst haben und die meisten Rene besitzen – könnten mit Sicherheit auf Kolgujew weiterexistieren und dort irgendeinen Produktionszweig in Gang bringen. Aber das wird dauern. Augenblicklich sieht man allenthalben nur Niedergang: Unvermögen, mit den Trümmern der sozialistischen Ökonomie fertigzuwerden, Verletzbarkeit, Erbitterung, Verzweiflung, das Gefühl, von der Welt aufgegeben worden zu sein, ungerecht behandelt zu werden, Alkoholismus, Dahinvegetieren, Leben am Rande des Hungers – dies sind die Kennzeichen des heutigen Tags.
    Wassili Golowanow, Pjotr Glasow
    68 Frauen, die mit den Renhaltern in die Tundra gehen und als Betriebsangestellte hausfrauliche Arbeiten erledigen. [Anm. d. Ü.]

VII.
Die Insel Kolgujew im Jahr 2012
    Dem vor 18 Jahren Geschriebenen bleibt wenig hinzuzufügen. In der Zeit seit jener Expedition, die diesem Buch zugrunde liegt, haben sich die Verhältnisse in allen Lebensbereichen weiter verschlechtert – was nur selbstverständlich ist, denn eine so große, einst als »Visitenkarte« der sowjetischen Zirkumpolargebiete ersonnene Ortschaft zu unterhalten, ist heutzutage eine unrentable Angelegenheit.
    Das spiegelt sich zuerst im Rückgang der Bevölkerung: 2007 betrug die Einwohnerzahl von Bugrino 358 Personen, davon waren 85 Kinder unter fünfzehn
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