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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman
Autoren: Luchterhand
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ihrer Weberei Cocolapan Wollstoffe, Piqué, Kaliko, Perkal und französisches Tuch herstellten; die Suberbies, deren Reichtum wuchs wie der Schaum auf ihrem Moctezuma -Bier; Monsieur Chabrand, der feine Miederwaren und Seidenwäsche in seinem Laden Las Fábricas de Francia verkaufte. Und Damen von Rang trugen, wenn sie auf der Prachtstraße promenierten, Kleider aus Shantung -Seide mit Soutache- Besatz und rafften ihre Röcke, um ihre Säume nicht mit menschlichem Kot zu beschmutzen, sobald sie eine gewöhnliche Straße überquerten, weil Orizabas Arme diese als Latrinen nutzten.
    Wenige Jahre zuvor hatten die Invasions-Truppen die Stadt zur Dauerkaserne umfunktioniert und nun machten sich die ortsansässigen Herren einen Zeitvertreib daraus, all die exotischen Uniformen zu identifizieren. Die Jäger von Vincennes erkannten sie an ihrem dunkelblauen Waffenrock; die Zuaven an ihren fleischfarbenen, an Unterkleider erinnernde Pluderhosen und ihren Schnürstiefeln aus gelbem Leder; die algerischen Zuaven an ihrer dunklen Haut und den weißen Turbanen; die spanischen Soldaten unter General Prim an ihren leichten Uniformen mit den Strohhüten und deren Offiziere an ihren koketten Schiffchen, Leopoldinen genannt.
    Orizaba wurde vom übrigen Land verurteilt und als »die Verfluchte« gebrandmarkt wegen ihres bis in die jüngste Zeit andauernden Gehorsams gegenüber der europäischen Vorherrschaft und ihrer verblendeten Bewunderung für die Regierung Erzherzog Maximilians, der drei Jahre und sieben Tage Kaiser von Mexiko war, bis der Indio Benito Juárez ihn bei »Tres Campanas« standrechtlich erschießen ließ, um ein für alle Mal klarzustellen, dass sich das freie Volk eines aztekischen Landes nicht von einem Österreicher mit blondem Bart regieren ließ. Um dies zu besiegeln, schickte er ihn nach der Erschießung in einem Rosenholzsarg nach Europa zurück, gebührend einbalsamiert, versteht sich, und mit Glasaugen anstelle der eigenen, die einem Votivbild der heiligen Ursula würdig waren.
    Der Franzose Ángel Miguel Arnaud, Ramóns Vater, überquerte den Atlantik und schlug in Orizaba Wurzeln. Er liebte seine neue Heimat mehr als die alte, arbeitete hart und schaffte es, ein mittelgroßes Vermögen anzuhäufen. Er nutzte die Fördergelder für das Transportwesen der Regierung Porfirio Díaz und baute damit die städtische Eisenbahn. Er erwarb eine Hacienda und ein Haus in der Calle Real. Er wurde zum Postdirektor von Orizaba ernannt und war so einer von Tausenden, die Porfirios Wahlspruch erfüllten, »dem Esel zu fressen zu geben«.
    Trotz dieses Mottos war das Leben der Bürokraten im damaligen Mexiko keineswegs einfach. Es war die Regel, dass ihre Gehälter Monate später gezahlt wurden und sie stets mit einem Bein auf der Straße standen, weil sie beim geringsten Verdacht des Treubruchs gegenüber der Regierung kurzerhand ihre Posten verloren. Um das zu verhindern, mussten sie sich dem richtigen politischen Club anschließen, bei offiziellen Anlässen große Summen spenden, dem Liebchen ihres Dienstherrn Geschenke kaufen und auf allen Paraden mitmarschieren.
    Ángel Miguel Arnaud verstand nicht nur diese Regeln, er verstand sich auch auf das Spiel mit Macht und Geld, so dass seine Familie, solange er lebte, eine ehrbare Existenz auf der Höhe von Orizabas provinziellem Pomp führte. Als er das Zeitliche segnete, begann jedoch seine Witwe Doña Carlotta Vignon – vordem eine unbesorgte, fröhliche Matrone, berühmt für die beste Mayonnaise weit und breit – , das Geld aus dem Fenster zu werfen, so erzählen es die einen, beziehungsweise, so die anderen, einem habgierigen Testamentsvollstrecker auf den Leim zu gehen, mit ein und demselben Ergebnis: ihrem Ruin.
    Ramón, das älteste ihrer Kinder – damals noch ein Jüngling, halb Franzose, halb Mexikaner, mit abwesendem Blick aus runden lang bewimperten Puppenaugen – , kam unter diesen widrigen Umständen aus der Spur. War er doch dazu erzogen worden, ein Erbe zu verwalten, nicht einen Bankrott.
    Eine Zeit lang ging er bei einem Apotheker in die Lehre. Er lernte die Formeln und Namen sämtlicher Arzneien auswendig und fand Gefallen an Ersthilfekuren, bis der Inhaber der Apotheke mitsamt seinem Geschäft in die Hauptstadt umzog. Nach einer Phase des Schlendrians und Müßiggangs beschloss Ramón, zum Militär zu gehen.
    Mit dem üblichen Vermögen hätte er die Offizierslaufbahn an einer Militärakademie eingeschlagen, wie bei einem Sohn aus weißem Hause
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