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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Leidenschaft oder des Leidens. Ein vielsagender, zugleich schizophrener Name, der in einem Wort Gegensätzliches fasst, denn Passion kann beides sein, Liebe und Schmerz, Begeisterung und Qual, Zuneigung und Wolllust. Ein jeder wird, wenn er ein Synonymwörterbuch aufschlägt, der Mehrdeutigkeit des Begriffs sofort gewahr. Aber der alte Seefahrer Ferdinand Magellan taufte das Atoll im Pazifik nicht umsonst Isla de la Pasión – er war genug in fremden Ländern herumgekommen, um es auf den ersten Blick zu durchschauen.
    Aber nicht allein ihrer mangelnden Bedeutung und Abgeschiedenheit wegen ist die Insel Clipperton unbesiedelt, sie ist es vor allem, weil sie alles dransetzt, dass es so ist. Jahrhundertelang tat sie nichts anderes, als an ihrer uneinnehmbaren Festung zu bauen, indem sie, Polyp um Polyp, einen lebendigen Mauerring aus Korallen um sich errichtete, der jedem nahenden Schiff unter Wasser auflauert, um es zu zerfetzen. Dieses mächtige Riff ist das einzige von ihr geduldete Bauwerk, all der anderen entledigt sie sich, indem sie Orkane anlockt, die alles mitreißen, was der Mensch hinstellt. Obendrein unterhält sie vor ihrer Küste drei natürliche Wellenbrecher, die kleinere Schiffe kentern lassen und jeden ertränken, der den Versuch unternimmt, schwimmend an ihr Ufer zu gelangen. Wer es trotz all dieser Erschwernisse schafft, dies zu erreichen, wer glaubt sie gebändigt zu haben und auf ihr Wurzeln schlägt, den schlägt am Ende sie mit Heimsuchungen wie Skorbut, Verlassenheit und Vergessen und zahlt ihm jeden Tropfen Glück mit zwei Tropfen Grauen heim.
    Schwefel, Gestank, Riffe, Wellenbrecher, Wirbelstürme, all das mag ja auf sie zutreffen, aber so unheilvoll, wie man ihr nachsagt, kann Clipperton doch nicht sein, wie ließe sich sonst jene andere Tatsache erklären, die genauso zutrifft und historisch unwiderlegbar ist: Vor einem Dreivierteljahrhundert schifften sich ein junger Offizier der mexikanischen Armee, Hauptmann Ramón Arnaud und seine Frau Alicia, frisch verheiratet und mit reichlich freudiger Erwartung sowie haufenweise Hausrat ausgestattet, in dem festen Entschluss ein, sie mit Nachkommen zu bevölkern, und Clipperton, die Zornige empfing sie sanftmütig, gestattete ihnen, ohne Not auf ihr zu leben und ein Dasein zu fristen, so glücklich wie einst Adam und Eva im Paradies.
    Die blutjunge Alicia fand den Ort romantisch, magisch, genauso wie sie ihn erträumt hatte und verliebte sich in seine Sonnenuntergänge und in seinen Frieden. Ramón Arnaud, der bis dahin im Dunkeln stand und seiner familiären Herkunft halber besser Französisch als Spanisch sprach, landete an ihrem Gestade, um sich von einer Schuld reinzuwaschen und eine kurze, mit wenig Ruhm gesegnete Vergangenheit endgültig abzustreifen, und sollte ausgerechnet dort, in diesem zwielichtigen, verlassenen Winkel des Planeten Gelegenheit haben, sich durch Gesten des Heldenmuts hervorzutun, als er die mexikanische Souveränität gegen tatsächliche und erdachte Feinde verteidigte, wobei Letztere nicht minder schrecklich waren als die ersten.
    Dass diese Geschichte einen tragischen Ausgang nahm, straft das Vorangehende nicht Lügen, nämlich die fünf guten Jahre, die Ramón und Alicia auf der Isla de la pasión verbrachten. Ist diese also weder Hölle noch Paradies, nicht lustvolle und auch nicht leidvolle Passion, dann bleibt wohl nur eins: Clipperton ist nichts. Doubtful existence: ein winziger, kaum wahrnehmbarer Punkt im Meer, wo man weder anlegen noch auslaufen kann. Von Orkanen durchfegt, von Flutwellen abgetragen, von Landkarten gelöscht, von den Menschen vergessen und in einem Meer verloren, das früher mexikanisch war, heute aber enteignet und ausländisch ist. Ihr Name verworren, die Protagonisten ihres Dramas längst verstorben, hört die Insel auf zu existieren. Es gibt diesen Ort gar nicht. Diese Insel ist Illusion und Albtraum gleichzeitig, nichts als ein Traum, eine Utopie.
    Oder gibt es irgendjemanden, der aus eigener Erfahrung das Gegenteil beweisen kann? Ist noch jemand am Leben, der sich daran erinnert und bezeugen kann, dass das alles wirklich passiert ist?
    Mexiko-Stadt, Dezember 1988

Orizaba, Mexiko
    – heute –
    Die Pension Loyo in Orizaba liegt in der Calle Sur II, Nummer 124. Sie ist im Grunde eine Auto-Pension. Ein riesiges Parkhaus, grau wie alle, und daneben ein Haus. Ich kenne die Person, die dort wohnt, nicht, obwohl ich sie in Mazanillo, in Mexiko-Stadt und in Puebla gesucht habe. Nachdem ich in
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