Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
kann ich Ihnen meinen Vater zeigen.«
    Vor dem Wohnhaus der Hacienda in Orizabas Umland sitzen die beiden Söhne von Señora Alicia Arnaud, verwitwete Loyo, auf der Veranda und ruhen sich von ihrer Arbeit, dem Versorgen des Viehs, aus. Sie unterhalten sich bei Tacos, die mit Kaktusblättern und Chili gefüllt sind, und trinken dazu Weinbrand Presidente , verdünnt mit Leitungswasser. Vor ihrem Haus breitet sich eine große dürre Fläche aus, die Tränke in der Mitte ist umlagert von Schafen, Schweinen und Hühnern, die ihren Durst löschen. Señora Alicia zeigt in jene Richtung. Da sehe ich es: In der Tränke erhebt sich ein Blechfass und obenauf steht, umgeben vom friedlichen Plaudern seiner Nachkommen und den Lauten der Tiere, mit einem spitzen Preußenhelm auf dem Kopf, Hauptmann Ramón Nonato Arnaud Vignon, zu einer Bronzebüste gegossen.

Gefängnis Santiago Tlatelolco, Mexiko-Stadt
    – 1902 –
    Vornamen: Ramón Nonato
    Familiennamen: Arnaud Vignon
    Geburtstag und - ort: Orizaba, 31. August 1879
    Vater: Ángel Miguel Arnaud (französische Staatsangehörigkeit)
    Körpergröße: 1,70 m
    Haare: dunkelblond
    Haut: weiß
    Stirn: gerade
    Mund: gleichmäßig, schmale Lippen
    Nase: spitz
    Besondere Merkmale: kleine Narbe in der Stirnmitte
    Eine Karteikarte mit diesen Daten von Ramón Arnaud wurde am 8. Juli 1901 bei dessen Aufnahme in der Stammrolle des Militärs angelegt, als er im Alter von 22 Jahren seine missglückte Militärlaufbahn begann und als Oberfeldwebel der Kavallerie ins Siebte Regiment der mexikanischen Armee eintrat. So nachzulesen im Archiv des Mexikanischen Verteidigungsministeriums.
    Dort ist ebenfalls ein Formblatt mit seiner anthropometrischen Beschreibung abgeheftet, derzufolge er ein Mann durchschnittlicher Größe war (einssiebzig), mit femininen Füßen (links 246 mm), einem normalen Kopf und kleinen Händen (von der Wurzel bis zur Spitze des Mittelfingers maß seine Linke 118 mm).
    Auf den Tag genau ein Jahr nach diesem Eintrag, nämlich am 8. Juli 1902, hatte seine weiße Haut ein schmutziges Mausgrau angenommen, in seinem dunkelblonden Schopf wimmelte es von Läusen und die kleine Narbe stach ins Auge wie ein Kreuz, das jemand mit dem Fingernagel in die wächserne Textur seiner breiten Stirn geritzt hatte. Er lag in seiner Zelle im Militärgefängnis von Santiago Tlatelolco auf der Pritsche. Die Ration aufgebackener schwarzer Bohnen vom Zinnteller neben ihm war unberührt und er weinte vor Wut und Scham.
    Ein Kriegsrat hatte über ihn Gericht gehalten und das Urteil gesprochen: fünfeinhalb Monate Bunker für seine Fahnenflucht aus der Armee, außerdem Degradierung zum gemeinen Soldaten. Er hatte nämlich am Abend des 20. Mai, in kalten Schweiß gebadet, hinter ein paar Maissäcken gehockt und auf den passenden Augenblick gelauert, um aus der Baracke auszureißen, nicht ohne sich voller Angst auszumalen, wie die Nachricht seine Heimatstadt Orizaba erreichen würde: Ramón Arnaud, Deserteur.
    Ramón Arnaud, der arme Teufel, war unfähig zu ertragen, was all die halb verhungerten, barfüßigen Indios, die im Siebten Regiment seine Waffenbrüder waren, geduldig hinnahmen. Den hündischen Gehorsam, die Tritte in den Hintern, den Saustall und das Elend, woraus das Leben in der Truppe bestand, sie ertrugen es, wie auch immer. Er nicht. Und sie, seine Kameraden, die ertrug er ebenso wenig. Lauter stinkende Einfaltspinsel waren sie für ihn, eingezwängt in so zerschlissene Uniformen, dass darunter die Haut zu sehen war, und in einem fort mit Alkohol und Marihuana benebelt.
    Er, Arnaud Vignon, der wegen seiner guten Erziehung, seiner Körpergröße, seiner weißen Haut und dem Einfluss seiner Familie sofort im Dienstgrad eines Oberfeldwebels angetreten war, war ein größeres Stück Scheiße als diese ganzen Scheißer, das würden die Leute in Orizaba – beim Ausgang der Kirche, auf den Spaziergängen über die Alameda, beim Nachmittagskakao – einander zuflüstern.
    Orizaba, mit seinem französischen Pavillon auf dem großen Platz, mit seinem Art-nouveau-Bahnhof, mit seinem eisernen Rathaus, das Eiffel höchstpersönlich entworfen hatte – ja, der vom Turm –, und das bis zur letzten Schraube in Einzelteilen aus Paris geliefert worden war. Orizabas tüchtige, wohlhabende Familien gallischer Herkunft standen dem mit Blut und Schießpulver erzwungenen Fortschritt eines Porfirio Díaz näher als den häretischen, nationalistischen Ideen des Indio Benito Juárez. Zum Beispiel die Legrands, die in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher