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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker
Autoren: Ingeborg Arlt
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gehe nicht um
die Pest, und ihre Augen glänzten feucht, als sie von Jochimken sprach. Hätte
sie doch beide Söhne nach Amsterdam gehen lassen! Aber damals schien Jochimken
ihr dafür noch zu klein. Nun war er nicht mehr zu klein. Nun verachtete er
seinen Vater. Dauernd müsse sie zwischen den beiden vermitteln. Nun renne er
jeder Art von Schwarmgeistern nach. Mal halte er unsere Welt für nur eine von
neun, schnitzte Runen in Stäbe und küsste den Findling im Garten. Mal geißele
er sich, schlafe auf den Dielen und wolle härene Hemden. Mal tanzte er nackt
mit den Adamiten herum.
    Von denen
wisse doch Valentin, oder? Von dieser Sekte in der Schäperstraße, die
splitternackt tanze, bete und singe?
    Und
offensichtlich, sagte sie, tanzten, beteten und sangen sie nicht nur. Nachdem
sich ihr Jochimken ein paar Tage lang eingeschlossen hatte, habe er sich nun
endlich ihr anvertraut. Kobers Einladung zur Beratung sei ihr wie ein Geschenk
des Himmels erschienen, sie hätte sonst zu ihm kommen müssen. Sie brauche die
Bücher. Jochimken habe die Lustseuche. Nicht die der Franzosen, die andere. Er
habe Schmerzen beim Wasserlassen und ein morgens eiterndes Glied.
    »Und wenn Ihr
den Physikus holt?«
    In Pestzeiten
den Arzt! Er merkte es selbst: Das war keine gute Idee.
    So hatte es
sein sollen gestern Abend.
    Dass sie die Bücher von ihm
holte, die er dort, im Rathausgewölbe, für sie herausgesucht hatte.

 
    21
     
     
     
    Sie stöhnt im Schlaf.
Vielleicht hat sie das vorhin auch schon getan, aber jetzt, ohne Geschrei und
Peitschengeknall da draußen, ohne Hufschlag und Räderrollen auf den Bohlen der
Brücke, ist es zu hören.
    Wenn ich doch
bloß etwas zum Verbinden hätte! Gern würde ich ihre Schmerzen lindern, aber so,
ohne sie sauber bedecken zu können, ist das Öffnen der Blasen zu gefährlich.
    Und daran, es
Peter zu sagen, habe ich auch nicht gedacht. Nur, dass er vorsichtig sein
solle, habe ich gefleht. Er wollte noch etwas holen. Er sagte nicht, was. Er
wollte in Erfahrung zu bringen versuchen, was aus Valentin geworden sei. Das
Tor zum Gewölbe, sagte er, sei, als wir flohen, noch geschlossen gewesen. Ich
hatte es nicht sehen können. Ich hatte das Kind auf dem Arm, half ihm, Judith,
die gerade noch so laufen konnte, zu führen.
    Verdammt! An
alles haben seine Vorväter hier gedacht, an Waffen, Krautfässer, Pökelfleisch,
Kleider, Werkzeug, Schmalz, Erbsen, Honig. Und was ist das hier? Wolfsbohnen.
Oder Lupinen, sagen sie hier wohl. Die muss man erst wässern, aber dann
schmecken sie nicht schlecht. Nur brauche ich jetzt keine Lupinen, ich brauche
Verbandszeug.
    Hier?
    Nein, hier auch nicht.

 
    22
     
     
     
    Die Wahrheit ist: Sie
erblickten die Welt in verschiedenem Licht. Während bei Judiths Geburt eine
Öllampe brannte, während sie und Kober sich auch in diesen eisenharten Zeiten
noch die teuren Wachskerzen leisten konnten, besaßen Valentins Eltern nicht
einmal Unschlittkerzen; bei seiner Geburt rußte und blakte ein Kienspan.
    Die Wahrheit
ist: Während Judith auch jetzt, im zwanzigsten Kriegsjahr, noch für ihre
Familie Sauerkraut machen konnte, mit Mühe zwar, zugegeben, denn der Weißkohl
reichte nicht mehr und sie mischte ihn mit Grünkohl und Futterkohl, aber
während sie sogar noch jemanden hatte, der ihr dabei half und dem sie Lohn und
Brot geben konnte – »Fester, Jenne, fester, das muss alles noch rein in das
Fass!« – »Ick kniep den ja man schon so tosamm’!« –, während sie sogar noch
Ulla hatte, mit der sie über die verdrossene Jenne lachen konnte, als die das
neue Gemisch »Knieperkohl« taufte, hatten andere Leute nichts mehr zu lachen,
keinen Weißkohl, keinen Grünkohl, keinen Futterkohl. Während sie und Kober
unter den Kriegsfolgen litten, litten andere überhaupt nicht mehr, sondern
waren schon tot.
    Die Wahrheit ist, dass man
einen anderen nur so weit versteht, wie die eigenen Erfahrungen reichen.
    Ihren kurzen
Blick in seine Augen vorgestern, als Pflücke vorschlug, die Beratung mit dem
Lied »Ein’ feste Burg« zu beginnen, verstand Valentin. Er wusste: Auch sie
mochte diesen Mann nicht besonders. Das gereckte Kinn. Die hängende Unterlippe,
während er nun schon die zweite Strophe sang. Die dritte, die vierte, während
Kober reden wollte.
    »Von wegen!«,
sagte ihr Blick, »von wegen ›Nehmen sie den Leib,/Gut, Ehr, Kind und Weib/lass
fahren dahin‹ – der hat neulich nicht einmal seinen Wagen dahinfahren lassen.
Zum Wittstocker Tor, wo die Angreifenden mit
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