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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman
Autoren: Heyne
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schuppiges Gewürm wimmelte an allen Ecken des Verkaufsstands und der Besenbinder, der weder Tod noch Teufel fürchtete, vom Anblick eines aalglatten, sich windenden Schlangenleibs jedoch schlagartig weiche Knie bekam, griff nach der Kehrichtschaufel. Wie rasend schlug er auf die Vipern ein, die aus den Kehrichteimern quollen und ihm über die Schuhe krochen. Er verfluchte die Würmer und Kröten, die seine Ware mit zähem Schleim besudelten. Als er im Nacken eine zarte Berührung spürte und nach der Stelle fasste, glitt eine gespaltene Zungenspitze über seine Handfläche. Er brüllte auf und schüttelte sich. Wie ein tollwütiger Hund sprang er auf der Stelle auf und nieder und drehte sich im Kreis, bis eine graue Ringelnatter aus seinem Kragen fiel. Entsetzt wich er zurück. Durch die hastige Bewegung riss er eine Stange um, die das vom Regen durchweichte Zeltdach stützte. Das Gestell brach über ihm zusammen, doch statt nassem Laub regnete es Blindschleichen und Tausendfüßler auf ihn, sich kringelnde Regenwürmer und säckeweise Maden, Küchenschaben, Kellerasseln und hastig fliehende Spinnen, so groß wie Bierhumpen.
    Noch nach Wochen sprach man auf dem Markt und im ganzen Gerberviertel über den Bürstenmacher, der plötzlich irr geworden war und wie ein Stier auf seinen Besen herumtrampelte. Dass er brüllte, bis ihm das Blut aus dem Maul troff, wusste die Korbmacherin, und dass er eine Fackel an seine Bürsten hielt. Der Kerzenzieher wollte gesehen haben, wie er sich die Haare büschelweise ausriss und sie ins Feuer warf und wie dabei grüne Stichflammen aufgestiegen waren. Der Seifensieder schwieg. Er war der Einzige, der bezeugen konnte, wie der Bürstenmacher plötzlich in Richtung Fluss rannte, wobei er sich das Hemd vom Leib riss, und unter gellenden Hilferufen in die Ill sprang.
    Niemand hielt den Ärmsten auf. Zwei Tage später fand man ihn unterhalb der Schleuse, wo ihn die Wasserwalze immer wieder unter die Oberfläche drückte. Fische hatten seine Augen gefressen. Der Seifensieder vertraute sich schließlich der Frau des Schlachters an, und als die Böden vom Frost steinhart geworden waren, fand man ihn erhängt in seiner Siedeküche.
    Diese Ereignisse hielten das Gerberviertel derart in Atem, dass sich niemand fragte, wer wohl die Frau in dem mitternachtsblauen Mantel gewesen war. Yvonne war es recht so. Sie wollte nicht erkannt werden und sie wünschte auch nicht, dass man sich an sie erinnerte.
    Sie hörte die Schreie des Bürstenbinders, während sie den Friedhof überquerte. Wie schiefe, schwarze Zähne saßen die Grabsteine in der Erde. Abfall häufte sich an der Mauer. Schweine und streunende Hunde wühlten im Müll und in der Mitte des Friedhofs ragte ein großer, versteinerter Baum auf. Jahr und Tag war kein Blatt an den Zweigen zu sehen, doch nun umwölkte ihn Nebellaub und in der Krone glitzerten Regentropfen.
    Vor dem Baum kauerte eine Figur auf einem Stumpf, halbnackt und in ein zerlumptes Lendentuch gehüllt. Der Ellenbogen ruhte auf dem Knie, das Kinn war auf die Faust gestützt. In dieser Pose verharrte die Gestalt. Von Ferne hätte man die Skulptur für einen Engel halten können, einen ruhelosen Wächter über die Toten, doch aus der Nähe sah man den zornigen Ausdruck, der das Gesicht verdarb. Ein Skorpionschwanz ringelte sich um die Füße, Handgelenke und Knöchel waren an den Stumpf gekettet. Von den Eisenschellen liefen unschöne Rosttränen über den Stein.
    Yvonne betrachtete den Dämon aufmerksam. Er erschien ihr schöner und anziehender als je zuvor, denn in seine Kraft und seine Anmut mischte sich ein Hauch von Tragik. Endlich trat sie zu ihm, legte ihm die Hand auf sein kaltes Knie und brachte ihren Mund dicht an sein marmorweißes Ohr.
    »Weshalb ziehst du so ein Gesicht? Ist dir etwa langweilig, so ganz allein unter den Toten?«, hauchte sie.
    Täuschte sie sich oder lag plötzlich ein Glitzern in seinen Augen? Spannte sich die Seite des Gesichts, die ihr zugekehrt war? Hob sich etwa die Lippe und entblößte einen spitzen Zahn?
    Yvonne lächelte. Mit diabolischer Freude kostete sie diesen Augenblick aus, den Moment, an dem sie Macht über jemanden hatte. Wenn sie es wollte, würde ihr Schweigen Jahrhunderte währen, Jahrhunderte des Nachdenkens, gefesselt in kaltem, weißem Stein.
    »Samhain ist vorüber und das Mittwinterfest steht vor der Tür«, fuhr sie fort. »Wir drei versammeln uns wieder.«
    Diesmal war sie sicher: Die Figur ballte die Faust härter
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