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Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Helga Glaesener
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geschehen, dass Jössele ihr die Hände auf den Rücken band. Wir gehen hindurch und haben es hinter uns.
    Marx folgte ihr durch das Bodenloch. Mit ihm verfuhr man weniger rücksichtsvoll. Kaspar hieb ihm einen Knüppel über den Kopf, ein anderer griff zu, damit er nicht ins Verlies zurückstürzte. Er war benommen, und diese Zeit nutzte man, um ihm Ketten um die Hände, die Füße und den Hals zu winden. Natürlich wurde er mit aller Raffinesse gefesselt – keiner hatte die Untaten vergessen, deren er beschuldigt wurde. Trotz des Gewichts der Ketten schaffte er es, sich aufzurappeln. Sie ließen es zu, dann versetzte ihm einer der Männer mit dem Schimpfwort »Hexer« einen Tritt, und man schob sie durch den engen Flur ins Freie.
    Es war spätnachmittags, fast abends, und es schneite. Der Rest des Gesindes hatte sich vor dem Hexenturm versammelt. Sie bildeten eine Gasse, als die Gefangenen zum Hof geführt wurden. »Hexer!«, rief eine der Frauen, und andere nahmen den Ruf auf, bis die vereinzelten Worte einen gemeinsamen Rhythmus fanden – ein Trommelwirbel aus menschlichen Kehlen. »Hexer … Hexer …«
    Sophie musterte die Menschen, an denen sie vorbeigeführt wurde, verstohlen aus dem Augenwinkel. Es waren armselige Gestalten in groben Hosen und grauen Schürzen, voller Hass. Gegen Edith hatten sie nichts unternehmen können, nun würden sie Marx für die Furcht büßen lassen, die sie ausgestanden hatten, den Werwolf, der in einem brennenden Haus überlebt hatte. »Hexer … Hexer …«, skandierten sie. Sophie erblickte Josepha, die sich ängstlich hinter einem der anderen Weiber versteckte, und dachte daran, dass Dirks Magd gegen sie aussagen sollte.
    Auf dem Boden lag eine weiße, dünne Schneedecke, in die sich ihre nackten Zehen drückten. Es dämmerte, und wegen der dichten Wolken drang kein Sonnenstrahl in die Burgmauern. Alles war grau, das Licht fade. Nebel hing wie feuchter Rauch zwischen den Mauern. Es würde schon bald völlig dunkel sein. Das Gesinde hatte in die eisernen Halter brennende Fackeln gesteckt. Man hatte sich offenbar darauf eingerichtet, dass das Spektakel längere Zeit in Anspruch nehmen würde.
    Mittlerweile hatten sie den Innenhof erreicht, wo Marx vor einem knappen Jahr auf seine Hinrichtung gewartet hatte. Dieses Mal stand kein Podest bereit, doch sonst gab es eine gespenstische Ähnlichkeit. Der Schnee, das Gesinde, das auf seinen Herrn wartete, die fast greifbare Sehnsucht nach einer Wiederherstellung der Ordnung, die darauf wartete, sich in einem monströsen Akt der Grausamkeit zu entladen.
    Sophie zuckte zusammen, als die Haupttür des Palas aufflog. Zwei Knechte trugen Stühle hinaus. Einer war sicherlich für Marsilius bestimmt und der andere für Edith – auch das genau wie damals. Sie schaute zu Marx. Der Knüppel hatte ihn im Gesicht getroffen. Blut lief über seine Augen das Gesicht hinab. Konnte er überhaupt noch etwas sehen? Immerhin stand er gerade. Das würde sich auch nicht ändern, solange er es schaffte, sich irgendwie auf den Beinen zu halten. »Wir gehen hindurch«, sagte sie halblaut und hoffte, dass er es hörte.
    Edith trat aus dem Palas. Sie ließ sich von einer Magd mit einer Lampe die Treppe hinabgeleiten, als wäre sie bereits die Herrin der Wildenburg. Selbst hier im Hof, wo alles Licht vom Nebel geschluckt wurde, strahlte ihr Haar noch. Wie konnte man nicht erkennen, dass sie eine Hexe war? Einige Knechte rammten zusätzliche Fackeln in Eimer voller Sand, die sie zu diesem Zweck herbeitrugen. Sie waren begierig danach, die Furcht in den Gesichtern der Angeklagten zu erkennen, und wahrscheinlich würden sie später ihren Freunden und Verwandten davon erzählen. Sophie sah, dass es Dirk war, der die Anweisungen gab. »Lass mich noch einmal meine Tochter sehen. Ich flehe dich an«, wisperte sie ihm zu, als er an ihr vorüberging. Nur ein einziger Blick auf ihr Kind. Nur von fern.
    Aber Dirk reagierte nicht. Er blickte die Stufen hinauf, wo plötzlich Marsilius im Türrahmen stand.
    Sophie hielt die Luft an. Es konnten nur wenige Tage vergangen sein, seit sie ihren Ehemann zum letzten Mal gesehen hatte, aber die Gestalt dort oben auf den Stufen erschien ihr greisenhaft, um Jahrzehnte gealtert. Marsilius musste von einem seiner Knechte gestützt werden. Der Bart, auf den er immer so stolz gewesen war, wucherte wild in seinem Gesicht. Als er es die Stufen hinabgeschafft hatte und sich mit einem schweren Seufzer auf seinen Stuhl fallen ließ, sah
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